Frankreich

Auf der Suche nach dem Sündenbock

Gelbwesten-Demonstranten in Paris (2018) Foto: Getty Images

Seit Wochen versetzen die Gelbwesten Frankreich in Aufruhr. Brennende Autos, Blockaden vor den Universitäten, geschändete Denkmäler. Die Rage des Volkes macht vor nichts halt. Selbst der Präsident verschanzt sich unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen im Élysée-Palast. Die Bewegung der »Gilets Jaunes« wird nicht nur für Emmanuel Macron zur Zerreißprobe, sondern auch für die Republik.

Der friedliche Protest gegen die Erhöhung der Benzinsteuer, die marode französische Infrastruktur, unerschwingliche Wohnkosten, die sinkende Kaufkraft und eine Steuerpolitik auf Kosten der kleinen Leute ist längst von extremistischen Gruppierungen linker und rechter Couleur gekapert worden.

krawalle Die Gelbwesten wurden nicht nur von Krawallsuchern unterwandert, sondern zielgerichtet von demokratie­feindlichen Elementen durchmischt. Wer »Ca-ca, pi-pi, capitaliste« auf den Pariser Boulevards skandiert, ist noch lange kein Staatsfeind, sondern einfach nur ein Kindskopf mit Faible für fäkaliengespickte Schüttelreime. Zwischen Infantilität und hirnverbrannten Hass passt manchmal jedoch nur ein Blatt. Der Schuldige an der französischen Misere ist schnell gefunden: Macron, der Vertreter einer Finanzelite, Macron-Jupiter, Herrscher über den Mammon.

Ein Sündenbock muss her für Frankreichs Misere, für den Braindrain, die Flucht der unter der Steuerlast leidenden, gut Ausgebildeten, den Aufkauf des französischen Immobilienmarktes durch ausländische Investoren und die No-Go-Areas in der Banlieue. Ein Schuldiger muss her, und wer eignet sich besser als Sündenbock als der gute alte Jude? Und überhaupt: Ist nicht Macron selbst jüdisch? Schaut doch mal seine Nase an!

Und schon werden Rufe laut, den Juden endlich mal wieder zu zeigen, wie der Hase läuft. Da werden ungeniert Schilder mit der Aufschrift »Macron, pute des juifs« (Macron, Nutte der Juden) in die Höhe gereckt und antisemitische Verschwörungstheorien im Netz verbreitet.

volksverhetzung »Casser du juif« (Juden klatschen) schallt es vereinzelt aus der Menge heraus. »Juden klatschen«, ruft ein junger Mann in die Kamera. Natürlich ist das Volksverhetzung, auch in Frankreich. Doch wer soll den Übeltäter identifizieren? Wer soll ihn in die Schranken weisen? Seine Gegner, seine Zielobjekte, wagen sich nicht mehr auf die Straße inmitten dieses Mobs, der längst nichts mehr mit den in prekären Verhältnissen lebenden Menschen zu tun hat, die schlicht Gehör für ihre Forderungen suchten.

Inzwischen ist die Straße tabu für diejenigen, die doch ebenso von den schlechteren Lebensbedingungen betroffen sind wie die Initiatoren der »Gilets Jaunes«-Bewegung in der französischen Provinz.

Es werden Rufe laut, den Juden zu zeigen, wie der Hase läuft.

Das Pariser Stadtbild ist von Verunsicherung und Angst geprägt. Das »Café de la Paix« (Café des Friedens) ist verbarrikadiert hinter dicken Holzplanken. Ariane L., eine Mittsiebzigerin, zieht ihren Einkaufswagen hinter sich her, wird jedoch vor der Synagoge in der Rue Vergniaud im 13. Arrondissement von zwei schwer bewaffneten Polizisten aufgehalten. »Madame, bitte gehen Sie nach Hause! Es ist hier zu gefährlich für Sie«, sagt der eine. Beherzt antwortet die Dame: »Zu gefährlich? Ich bin Jüdin, Monsieur.« »Genau deshalb«, sagt der andere. »Hier ist mit allem zu rechnen.«

Vorfälle wie dieser ließen auch Frankreichs Oberrabbiner hellhörig werden. Er wandte sich an die jüdische Gemeinde mit der Bitte, »mit besonderer Intensität für die Französische Republik zu beten«. Die »Ligue de défense juive« (LDJ) rief zu »extremer Wachsamkeit« auf. Der französische Philosoph Alain Finkielkraut hingegen stellt sich uneingeschränkt hinter die Gelbwesten, die er als Vertreter der Arbeiterklasse und unterprivilegierter Bevölkerungsschichten sieht. Das Gefahrenpotenzial erwähnt er nicht.

Dass die Sorge um die Republik jedoch nicht unberechtigt ist, zeigt sich auch am jüngsten französischen Presse-Eklat. Die Wochenzeitschrift »Paris Match« machte kürzlich mit einem Titelfoto des landesweit bekannten Holocaust-Leugners Hervé Ryssen in gelber Sicherheitsweste auf. Auch wenn sich der Verlag für dieses Malheur entschuldigt, der Schaden ist kaum mehr einzugrenzen. Dass die internen Kontrollmechanismen auf ganzer Strecke versagten und dem Aushängeschild der extremen Rechten somit eine Plattform geboten wurde, zeugt vom absoluten Ausnahmezustand.

auswanderung Nicht nur innenpolitisch ist die Situation höchst brisant. Meyer Habib, Abgeordneter der französischen Expatriierten, wurde in einem Video mit dem Thema »Warum die Zionisten einen Hass auf die Gelbwesten haben« attackiert. Die immer schamloser sich gebärdenden Protestler rufen auch jüdische Hilfsorganisationen auf den Plan. Der Verein »Keren Layedidout« (International Fellowship of Christians and Jews) erbot sich auf dem Höhepunkt der Ausschreitungen, auswanderungswillige Juden bei ihrer Alija zu unterstützen.

Dazu lässt das Straßburger Attentat Ängste aufkeimen und an der Kontrolle und Durchsetzungskraft des Staates zweifeln. Nicht nur linke und rechte Fanatiker, sondern auch die seit Jahren währende islamistische Bedrohung verunsichern die jüdische Gemeinde.

Die Spirale schraubt sich derart hoch, dass sich Marine Le Pen in klassischer rechter Manier als Stimme der Vernunft gebärdet: Die Sache müsse an den Urnen entschieden werden, nicht auf der Straße. Zupass kommt Madame das Misstrauensvotum des Linken-Anführers Jean-Luc Mélenchon. Die Republik wird von beiden Seiten in die Zange genommen.

All das ist ein Indiz dafür, dass tatsächlich die Alarmsignale aufleuchten müssen: Macrons Zugeständnisse an die Gelbwesten könnten schnell Makulatur werden. Viele fordern nun, der Präsident und die Verteidiger und Vertreter der Republik sollten sich als Citoyens an einen Tisch setzen und Tacheles reden. Ganz ohne gelbe Westen, denn Gelb verhieß für Juden noch nie etwas Gutes.

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