Portugal

Armut am Rande Europas

Am Rossio-Platz in der Innenstadt von Lissabon hat man den Eindruck, als gebe es keine Wirtschaftskrise. Die Sonne scheint, und die Cafés sind gut gefüllt. Doch schnell merkt man, dass es sich bei den Gästen vor allem um Touristen handelt.

Für die meisten Portugiesen ist die seit über fünf Jahren andauernde Wirtschaftskrise sehr wirklich. Die Arbeitslosenrate liegt bei mehr als 15 Prozent, von der Jugendarbeitslosigkeit sind fast 40 Prozent der unter 24-Jährigen betroffen. Zwar befand sich das kleine Land am südwestlichen Zipfel Europas im vergangenen Jahr nicht mehr in der Rezession, aber das Wachstum fiel zu gering aus, um von einer endgültigen Wende zum Besseren zu sprechen.

Etwas abseits der Touristenattraktionen, in einer ruhigen, für Lissabon so typischen steilen Seitenstraße, befindet sich die Geschäftsstelle der jüdischen Gemeinde. In einem nahe gelegenen Café sitzt bereits am Vormittag ein junger Mann und blättert durch die Tageszeitung. Im Gespräch erzählt er von sich: Er heißt Daniel, ist 28 Jahre alt, hat Jura studiert und gehört zur jüdischen Gemeinde. Nach dem Studium hatte er zunächst einen Job in einer Anwaltskanzlei gefunden, doch auch diese blieb nicht von der Krise verschont. Inzwischen sucht er schon seit zwei Jahren eine Anstellung. »Die Gemeinde hilft mir mit Information und Kontakten. Aber in der gegenwärtigen Situation ist es nicht einfach.«

Probleme Auch Esther Mucznik, die Vizepräsidentin der Gemeinde, sprüht nicht vor Optimismus: »Die Krise ist noch lange nicht vorbei«, sagt sie. Mucznik hat Geschichte studiert und ist seit vielen Jahren politische Kommentatorin bei der größten portugiesischen Tageszeitung »O Publicó«. Die kleine jüdische Gemeinde in Lissabon sei von den Folgen der wirtschaftlichen Probleme nicht verschont geblieben, erklärt Mucznik: »Wir spüren die Wirtschaftskrise genauso wie alle anderen Portugiesen.«

Das hat für die Gemeinde vor allem finanzielle Auswirkungen. So musste man die Ausgaben kürzen, die gedruckte Version des Gemeinde-Newsletters »Tikvá« wurde eingestellt. Junge, gut ausgebildete Gemeindemitglieder suchen ihr Glück inzwischen im Ausland. Während allerdings allein im letzten Jahr rund 100.000 Portugiesen ihr Land verlassen haben, war es aus der jüdischen Gemeinde nur eine Handvoll, so Mucznik – vor allem Brasilianer, die zurück in ihre südamerikanische Heimat gegangen seien. Was die jüdische Gemeinde in Lissabon auszeichne, sei, dass es aufgrund der überschaubaren Größe – es sind zurzeit rund 800 Mitglieder – einen guten Zusammenhalt und Solidarität gebe.

Eine wichtige Rolle spielt hierbei die gemeindeeigene Wohltätigkeitsorganisation »Somej-Nophlim«, die sich um Arme und bedürftige Alte kümmert. Sie wurde 1865 von Simão Anahory gegründet und unterstützte vor allem während des Zweiten Weltkriegs Zehntausende jüdische Flüchtlinge aus Europa, die in Lissabon auf ihre Ausreise warteten.

Spenden In der gegenwärtigen Krise haben sich Strukturen bewährt, die die Gemeinde für den sozialen Bereich etabliert hat. Die sechs ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen von »Somej-Nophlim« kümmern sich um mehr als 20 Bedürftige. »Wir sammeln Kleider, Geldspenden, Lebensmittel und verteilen sie an die Gemeindemitglieder, von denen wir wissen, dass sie darauf angewiesen sind. Hierfür arbeiten wir unter anderem mit der Lebensmittelbank zusammen, die bei Supermärkten Nahrungsmittel einsammelt«, beschreibt Miriam, eine der Helferinnen, die Arbeit der Gruppe.

Der größte Teil der Unterstützung geht an Mitglieder der Gemeinde, aber es gebe unter den Empfängern beispielsweise auch eine nichtjüdische Rentnerin, die der Gemeinde viele Jahre lang verbunden gewesen sei und jetzt im Alter in Armut leben müsse. »Für uns geht es in unserer Arbeit nicht um jüdisch oder nichtjüdisch, sondern um Solidarität und Humanität«, erklärt Miriam.

Elieser di Martino, der aus Italien stammende Rabbiner der Gemeinde, denkt darüber genauso. Er sieht seine Aufgabe darin, die materielle Hilfe für die Mitglieder um spirituelle Unterstützung zu ergänzen. »Ich versuche, in meinen Predigten immer aktuelle Themen aufzugreifen, und unseren Mitgliedern so Kraft zu geben«, betont der junge Mann. »Wichtig ist mir, zu zeigen, welche Herangehensweise die jüdische Religion für solche Krisenerfahrung bietet«, erklärt er seinen Ansatz. »Wir sollen nach vorn blicken, statt uns nur über Geschehenes zu beklagen.«

Geschichte Anders als in anderen europäischen Krisenländern spürt die Lissabonner Gemeinde keine Zunahme von Antisemitismus. Das liege natürlich daran, dass die jüdische Gemeinschaft in Portugal klein und eher unauffällig ist, betont Esther Mucznik. Sie zieht aber auch die jüngere portugiesische Geschichte als Erklärung heran: »Nach der Nelkenrevolution von 1974 konnten sich in Portugal keine rechtspopulistischen Parteien etablieren. Das hat sich auch in der gegenwärtigen schwierigen Situation nicht geändert.«

Ein Ende der wirtschaftlichen Probleme ist jedenfalls noch nicht in Sicht. Im Juni läuft das Hilfspaket der EU, des Internationalen Währungsfonds und der Europäischer Zentralbank aus. Wie es danach mit Portugal weitergeht, das weiß auch Esther Mucznik nicht.

München/Gent

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