Ein Rabbiner und sein sechsjähriger Sohn werden auf einer Raststätte in der Nähe von Mailand antisemitisch beschimpft. Ein spanischer Tourist wird bei einer Messerstecherei am Holocaust-Mahnmal in Berlin schwer verletzt. Der Angreifer soll geäußert haben, Juden töten zu wollen. Auf der griechischen Insel Syros können israelische Touristen nicht von Bord eines Kreuzfahrtschiffs gehen, da sich im Hafen ein aufgebrachter Mob versammelt hat, der antisemitische Parolen skandiert.
Eine Woche später wiederholt sich das Ganze: Auf Kreta können die Touristen desselben Schiffes nun zwar das Festland betreten, doch ihre Ausflugsbusse, um die sich Hunderte von Demonstranten versammelt haben, werden mit Flaschen beworfen. Es kommt zu Festnahmen. In Valencia werden eine Gruppe jüdischer Jugendlicher und ihre Begleiter von einem Flug nach Paris ausgeschlossen, weil sie offenbar hebräische Lieder gesungen haben. In Tirol will ein israelisches Paar seinen Hochzeitstag auf einem Campingplatz feiern – doch die Platzbetreiber verwehren den beiden den Aufenthalt. Das Paar, schockiert und sprachlos, muss sich einen neuen Stellplatz suchen. Und in Davos werden mehrere orthodoxe Juden von einem Mann beschimpft und bespuckt.
Schon die Wahrnehmung als jüdische Person kann zu Belästigung oder Gewalt führen.
Auch in Ferien- und Freizeitparks machen israelische Touristen beunruhigende Erfahrungen: In Frankreich verwehrte der Betreiber einer Gruppe von etwa 150 israelischen Kindern und Jugendlichen den Zutritt. Die Staatsanwaltschaft ermittelt nun gegen den 52-Jährigen. Nicht weniger erschreckend ist die Tatsache, dass in einem niederländischen Ferienpark Videos die Runde machen, in denen israelische Touristen markiert werden, um sie zu orten.
Die Liste wird länger und länger. Fast wöchentlich ereignen sich mehrere antisemitische Vorfälle gegenüber Jüdinnen und Juden, egal welchen Alters. Was vor ein paar Jahren noch unvorstellbar gewesen wäre, gehört heute zur Normalität jüdischer und israelischer Touristen. Beschimpfungen und Angriffe sind keine Einzelfälle mehr. Auch vor Diplomaten wird nicht haltgemacht. Sie geraten weltweit zunehmend ins Visier hasserfüllter Aktivisten oder Menschen, die nicht davor zurückschrecken, sie zu beleidigen oder sogar handgreiflich zu werden.
Schon die Wahrnehmung als jüdische Person kann zu Belästigung oder Gewalt führen – sichtbare Symbole wie die Kippa gelten als riskant. Jüdische Reisende sind daher aufgrund des starken Anstiegs von antisemitischer Gewalt und Hass weltweit, ausgelöst durch den anhaltenden Krieg zwischen Israel und der Hamas, zunehmend besorgt. Der französische Philosoph und Publizist Bernard-Henri Lévy schrieb vor Kurzem dazu auf X: »Das ist das Ergebnis des Hasses derjenigen, die Israel zu einem Völkermordstaat und die Juden zu dessen Komplizen machen, und das geschieht überall, immer häufiger und mit erschreckender Regelmäßigkeit.«
Blick in die Statistik
Der Blick in die Statistik zeigt: In Ländern wie Deutschland, Frankreich, Großbritannien und der Schweiz hat sich die Zahl antisemitischer Vorfälle massiv erhöht – oftmals mit direktem Bezug zum Nahostkonflikt. Eine Umfrage der Agentur der Europäischen Union für Grundrechte (FRA) unter knapp 8000 Jüdinnen und Juden in 13 EU-Ländern zeigt: 96 Prozent haben in den zwölf Monaten zuvor handfeste antisemitische Erfahrungen – online oder offline – gemacht. 90 Prozent erlebten Antisemitismus im Internet. 80 Prozent glauben, dass Antisemitismus in ihrem Land in den vergangenen fünf Jahren zugenommen hat.
Und 76 Prozent würden ihre jüdische Identität zumindest gelegentlich verbergen. Deshalb ist es auch nicht weiter verwunderlich, dass sich viele nicht mehr trauen, in der Öffentlichkeit Hebräisch zu sprechen. So erklärt eine deutschsprachige Mutter, die in Israel lebt und anonym bleiben möchte: »Ich sage meinen Kindern, wenn wir in Europa sind, immer wieder, sie sollen Deutsch sprechen.«
Diese Verunsicherung empfinden nicht nur Israelis, sondern auch viele Jüdinnen und Juden in der Diaspora. Man reist zwar in die Sommerferien, um eine unbeschwerte Zeit zu erleben, aber trotzdem schwingt bei vielen die Sorge vor antisemitischen Vorfällen mit. Auch das Gefühl, im Ausland für Israels Politik verantwortlich gemacht zu werden, führt zu Spannungen und Angst. Dennoch hält man am Reisen fest, selbst wenn man persönlich wachsamer geworden ist.
»Ich verzichte nicht aufs Reisen, aber ich bin auf jeden Fall vorsichtiger geworden«
Oran Zamberg, ein junger Israeli aus Haifa, der mit seiner Frau regelmäßig nach Europa reist, erzählt gegenüber dieser Zeitung: »Ich verzichte nicht aufs Reisen, aber ich bin auf jeden Fall vorsichtiger geworden und überlege mir zweimal, bevor ich einen Flug buche, ob die Destination für mich als Israeli sicher ist oder nicht.«
Es beängstigt Zamberg, wenn er von den Attacken gegenüber Israelis im Ausland lese. »Was mich vor allem erschreckt, ist die Tatsache, dass es überall auf der Welt passieren kann. Ich hoffe jedes Mal, wenn ich in ein Taxi steige oder meinen israelischen Pass an der Hotelrezeption zeigen muss, dass sie mir keine Fragen stellen. Ich gebe zu, diese Angst existiert tatsächlich.« Man werde schließlich immer gefragt, wo man herkomme, »egal ob im Taxi oder in einem Geschäft. Man fühlt sich unwohl und ist unsicher, was man sagen soll«.
Auch Ofek Zalik ist vorsichtiger als früher. Sie reiste vor Kurzem mit ihrer Mutter durch die Schweiz und hat festgestellt: »Man hat sehr schnell Vorurteile gegenüber anderen Menschen. So haben wir auf unserer Reise durchs Berner Oberland eine kurdische Familie kennengelernt. Erst dachten wir, wir sollten vielleicht kein Hebräisch vor ihnen sprechen. Aber weshalb sollten wir nicht? Sie waren sehr nett. Am Schluss haben sie uns sogar die Hand geschüttelt. Auch Touristen aus Oman, einem arabischen Land, haben sich mit uns unterhalten. Sie sagten sogar, sie würden Israel lieben. Natürlich sind das nur Urlaubsbegegnungen, aber das hinterlässt zumindest ein gutes Gefühl.«
Orte, die aktuell für Israelis als sicher gelten
Sicherheit ist sehr wichtig für die 22-Jährige. Sie würde daher nur an Orte reisen, die aktuell für Israelis wie sie als sicher gelten, so zum Beispiel die Schweiz, Norwegen, Albanien, die USA oder Zypern. Auch Südostasien oder Südamerika seien unproblematisch, sagt Zalik. Aber auch sie sei sich bewusst: »In der Schweiz fühlen wir uns wohl, auch wenn wir wissen, dass überall etwas passieren kann. Trotzdem vermeiden wir Städte, die für Israelis im Moment nicht empfehlenswert sind wie Paris und Berlin. Oder Orte, wo regelmäßig ›propalästinensische‹ Kundgebungen stattfinden. Eine Freundin von uns war letztens in Athen. Sie trägt normalerweise eine Kette mit einem Davidstern. Nach den jüngsten Angriffen in Griechenland war sie sehr verängstigt und versteckte ihre Kette. Es war ihr nicht mehr wohl dabei, wie sie uns erzählte.«
Auch Noga Gan Or war in Griechenland. Die Erzieherin aus Kfar Bialik besuchte am 8. Juni 2024 ein Konzert der Band Coldplay in Athen. Ihre Freunde in Israel hätten sie im Vorfeld darauf hingewiesen, dass es gefährlich sei, wenn sie Hebräisch spreche. »Doch exakt an diesem Tag wurden vier Geiseln befreit, unter ihnen auch Noa Argamani. Und was haben wir gemacht? Wir haben auf den Straßen von Athen getanzt!«
Natürlich beängstige auch sie die aktuelle Situation, aber sie spüre die Gefahr nicht, wenn sie selbst auf Reisen sei. Dabei ist für Gan Or klar: »Ich will aufs Reisen nicht verzichten.« Dann hält sie eine Weile inne und erklärt: »Meine Freunde sind über die ganze Welt verstreut. Vielleicht ist das mein Glück, dass ich mich beschützt fühle, wenn ich sie besuche. So komme ich mir zumindest weniger wie eine Touristin vor.«
»Vielleicht ist das mein Glück, dass ich mich beschützt fühle, wenn ich meine Freunde besuche.«
Noga Gan Or
Ganz normal als Tourist unterwegs war hingegen Ido Ariel. Er verbrachte im Juli mit seiner Frau ein paar Tage in Tirol. Im Gegensatz zu vielen anderen Israelis, die sich im Moment kaum mehr trauen, in der Öffentlichkeit Hebräisch zu sprechen, lässt sich der Mittfünfziger aus Jerusalem nicht aus der Ruhe bringen: »Wir haben so wie immer untereinander Hebräisch gesprochen. Es lief alles gut.«
Möglicherweise habe es auch geholfen, dass er Deutsch spricht und beide gut Englisch können. Da sie jedoch nur zu zweit unterwegs waren, sei es vielleicht nicht so aufgefallen, dass sie Israelis sind. »Glücklicherweise haben wir noch nie eine unangenehme Situation erlebt aufgrund der Tatsache, dass wir Israelis sind«, sagt Ariel und hofft, dass dies auch in Zukunft so bleibt. Er und seine Frau würden jedenfalls schon den nächsten Urlaub in Tirol planen, weil es ihnen dort so gut gefallen hat.