Warschauer Aufstand 1944

Allein gegen die Nazis

Bild aus der Ausstellung über den Warschauer Aufstand Foto: Museum Warschauer Aufstand 1944 (Warschau)

Häuser brannten, Trümmer und erschossene Menschen lagen auf den Straßen, so erinnert sich Bogdan Bartinowsky. »Ein furchtbarer Anblick«, beschreibt der heute 92-jährige Pole, was er als Zwölfjähriger sah. Am 1. August 1944 begann die polnische »Heimat-Armee« (Armija Krajowa, AK) einen Aufstand gegen die deutschen NS-Besatzer. Sie wollten ihre Hauptstadt aus eigener Kraft befreien - noch vor der sowjetischen Roten Armee, deren Soldaten bereits in den Vororten standen.

Mit dabei war Bogdan Bartinowsky, doch nicht als Kämpfer. »Die Führung der Heimatarmee hat uns Jugendlichen erlaubt, Botengänge zu übernehmen und solche Sachen«, sagt er auf Polnisch. »Ich habe erbeutete Waffen zu einer Sammelstelle gebracht und Material für ein
Feldlazarett.« Daria Schefczyk, Geschäftsführerin des Vereins »Zeichen der Hoffnung« aus Frankfurt am Main, übersetzt ins Deutsche. Bartinowsky erinnert sich: »Am Anfang herrschte unter uns eine freudige, fast euphorische Stimmung.«

Der Historiker Stephan Lehnstaedt vom Selma Stern Zentrum für jüdische Studien Berlin-Brandenburg erklärt, die polnischen Aufständischen hätten damit gerechnet, dass die sowjetische Rote Armee spätestens am 3. August an der Weichsel in Warschau stehen würde: »Sie wussten, dass die Rote Armee auch ihr Feind ist. Sie wussten aber auch, dass sie gegen die Deutschen alleine nicht gewinnen konnten.«

Stalin hatte kaum Interesse an einem Gelingen des Aufstands

Die AK hatte sich als Teil des sogenannten polnischen Untergrundstaats der polnischen Exilregierung unterstellt, die seit dem Einmarsch der Wehrmacht in Polen in London saß. Daneben hatten polnische Kommunisten ein »Polnisches Komitee der Nationalen Befreiung« gegründet. Dieses Komitee sollte nach sowjetischen Vorstellungen im Nachkriegspolen den Ton angeben - und nicht die Londoner Exilregierung.

Der sowjetische Diktator Stalin hatte daher kaum Interesse an einem Gelingen des Aufstands. Häufig liest man den Vorwurf, Stalin habe seine Soldaten gestoppt, um in aller Ruhe zuzusehen, wie die Deutschen die polnischen Aufständischen massakrierten. Tatsächlich stand Ende Juli die Rote Armee in Warschaus Vororten. Sie hielt allerdings nicht von sich aus an, sondern deutsche Truppen stoppten die Sowjets dort vorerst.

Dennoch sei der Vorwurf berechtigt, sagt der Berliner Historiker Lehnstaedt: »Am 17. August stand die Rote Armee ja dann doch an der Weichsel. Man kann schon fragen, warum ab da nicht mehr viel passierte.«

Ein bisschen Hilfe gab Stalin aber schon. In den Reihen der AK kämpften auch Kommunisten mit. Einzelne polnische Verbände der Roten Armee überquerten die Weichsel, und sowjetische Flugzeuge warfen ein paar Waffen, Munition und andere Güter über Warschau ab.

»Mehr als die Hälfte der Güter landeten bei den Deutschen«

Auch von westlicher Seite kam Unterstützung, die britische Luftwaffe ließ der polnischen »Heimatarmee« per Fallschirmabwurf Hilfe zukommen. Aber das reichte nicht. Das lag einerseits an technischen Grenzen: Die Flugzeuge damals konnten nicht viel und nicht zielgenau abwerfen. »Mehr als die Hälfte der Güter landeten bei den Deutschen«, erklärt Lehnstaedt. »Das war alles maximal ineffizient. Damit war der Aufstand nicht zu gewinnen.«

Andererseits hatten die Westalliierten drängendere Probleme und mussten mit ihren Ressourcen haushalten. Nach der Landung in der
Normandie im Juni 1944 standen ihre eigenen Truppen im Kampf mit den
Deutschen.

»Da war der Warschauer Aufstand nicht das Allerwichtigste«, erläutert Lehnstaedt. Generell könne man sagen, dass die mangelnde Unterstützung durch die Alliierten an einer Mischung aus Nicht-Wollen und Nicht-Können gelegen habe, wobei bei Briten und Amerikanern das Nicht-Können und bei den Sowjets das Nicht-Wollen stärker ausgeprägt gewesen sei.

Aus Rache töteten Wehrmacht und SS in den Ruinen Warschaus Zehntausende Zivilisten. Am 2. Oktober 1944, nach 63 Tagen, gab die AK auf. Der zwölfjährige Bogdan Bartinowsky war da schon in Auschwitz. Nicht, weil die Deutschen ihn bei einem seiner Botengänge erwischt hätten, sondern weil sie wahllos Warschauer Überlebende in
Konzentrationslager deportierten. SS-Einheiten hatten die Bartinowskys aus dem Keller ihres Hauses gezerrt, so erzählt er es.

Lesen Sie auch

Insgesamt waren nach dem Ende des Aufstands zwischen 150.000 und 200.000 Menschen tot. Keiner der Hauptverantwortlichen für das verbrecherische Vorgehen der Deutschen in Warschau musste sich je dafür vor Gericht verantworten. Einer der Hauptschlächter, der SS-Mann Heinz Reinefarth (1903-1979), wurde 1951 Bürgermeister von Westerland auf Sylt und später sogar schleswig-holsteinischer Landtagsabgeordneter für die »Gesamtdeutsche Partei Deutschlands«.

»Wut darüber empfinde er nicht«, sagt Bartinowsky heute und zieht die Schultern hoch. So sei das in der Geschichte eben häufig gewesen, Kriegsverbrecher kämen davon. Heute geht er für den Verein »Zeichen der Hoffnung« als Zeitzeuge in deutsche Schulen. Dort sage er immer: »Man darf sich von der schmerzlichen Vergangenheit nicht einnehmen lassen, man muss sich frei machen vom Hass.«

Bartinowsky lebt in der Nähe von Warschau. Sein Elternhaus steht noch, manchmal kommt er dort noch vorbei. »Ich schaue manchmal zu den Fenstern des Hauses meiner Kindheit hinauf«, erzählt er. »Dann fühle
ich Stolz, dass es uns gelungen ist, dieses Warschau wieder aufzubauen.«


Stockholm

Wirtschaftsnobelpreis geht auch an jüdischen Ökonom

Joel Mokyr, Philippe Aghion und Peter Howitt werden für ihre Forschung zu nachhaltigem Wachstum geehrt

 13.10.2025

Kommentar

Kein Wunder in Bern

Bei gewaltbereiten Demonstrationen in der Schweizer Bundeshauptstadt hat sich ein Teil der Palästina-Solidarität einmal mehr selbst entlarvt: Es ging nie darum, das Leid im Gazastreifen zu beenden oder einen angeblichen Genozid zu stoppen

 12.10.2025

Malibu

Kiss-Sänger Gene Simmons bei Unfall verletzt

Der 76-Jährige soll hinter dem Steuer das Bewusstsein verloren haben

 10.10.2025

Meinung

Außen hui, innen pfui: Trumps Umgang mit den Juden

Während sich der US-Präsident um die Juden in Israel verdient macht, leidet die jüdische Gemeinschaft im eigenen Land unter seiner autoritären Innenpolitik. Das sollte bei aller Euphorie über den Gaza-Deal nicht vergessen werden

von Joshua Schultheis  09.10.2025

Literatur

Nobelpreis für Literatur geht an László Krasznahorkai

Die Literaturwelt blickt erneut gebannt nach Stockholm. Dort entscheidet man sich diesmal für einen großen Schriftsteller aus Ungarn - und bleibt einem Muster der vergangenen Jahre treu

von Steffen Trumpf  09.10.2025

Italien

»Mein Sohn will nicht mehr Levy heißen«

Wie ist es in diesen Tagen, Jude in einer europäischen Metropole zu sein? Ein Besuch bei Künstler Gabriele Levy im jüdischen Viertel von Rom

von Nina Schmedding  06.10.2025

Großbritannien

Empörung über Israels Einladung an Rechtsextremisten

Jüdische Verbände und Kommentatoren in Großbritannien sind entsetzt, dass Diasporaminister Chikli und Knesset-Sprecher Ohana ausgerechnet nach dem Anschlag von Manchester einen rechten Agitatoren hofieren

von Michael Thaidigsmann  06.10.2025

Türkei

»Zionist«: Robbie-Williams-Konzert in Istanbul am 7. Oktober abgesagt

Die Stadt verweist auf Sicherheitsbedenken – zuvor gab es online massive Proteste wegen jüdischer Familienbezüge des Musikers

 05.10.2025

7. Oktober

Ein Riss in der Schale

Wie Simchat Tora 2023 das Leben von Jüdinnen und Juden verändert hat

von Nicole Dreyfus  05.10.2025