Nach Tagen der Sprach- und Regungslosigkeit im Krankenhausbett fragte sie plötzlich – ausgerechnet – nach Kartoffelpuffern. Sie habe Appetit auf Kartoffelpuffer. Latkes sind zugleich auch eine typisch tschechische Spezialität: Bramborák. Zwei Traditionen, in denen Dita Kraus tief verwurzelt war.
An diesem Tag sprach sie im Jerusalemer Krankenhaus auf Tschechisch von Lichtern, die sie sah, und von ihren verstorbenen Liebsten, die nun auf sie warteten. Am 17. Oktober 2025 (26. Tischri 5786), schloss Dita Kraus für immer ihre Augen – nur wenige Tage, nachdem in Israel endlich die Zeitrechnung weitergehen konnte und wir alle die gelben Schleifen ablegten: das Symbol der Hoffnung, des Lichts am Ende des Tunnels, der Befreiung der Geiseln.
Dita sang im Chor der Kinderoper »<em>Brundibár</em>«.
Geboren am 12. Juli 1929 als Edith Polachová in Prag, wurde Dita mit nur 13 Jahren gemeinsam mit ihren Eltern nach Theresienstadt deportiert. Dort begegnete sie zum ersten Mal ihrem späteren Ehemann Ota, Erzieher im Kinderblock und Cousin meiner Oma Eva. In Theresienstadt entdeckte Dita ihre Liebe zur Kunst und zur Musik. Sie sang dort im Chor der Kinderoper Brundibár.
Doch 1943 wurde sie nach Auschwitz deportiert. Bei der Selektion durch Josef Mengele entkam sie der Gaskammer nur durch eine List über ihr Alter. Sechs Monate verbrachte sie in Auschwitz, bevor sie – gerade einmal 14-jährig – zur Zwangsarbeit nach Hamburg verschleppt wurde. Es folgten die Außenlager Neugraben und Tiefstack, bis sie schließlich im Lager Bergen-Belsen ankam. Überall lagen Leichen und sogenannte »Muselmänner« – lebende Tote, die in ihren letzten Stunden dahinvegetierten.
Dita wusste, was ihr bevorstand – sie sah es um sich herum. Doch es kam anders. Am 15. April 1945 befreiten britische Truppen das Lager und mit ihm Dita sowie meine Oma Eva. Ditas Vater war in Auschwitz ermordet worden, ihre Mutter starb kurz nach der Befreiung in Bergen-Belsen.
In ihrem Buch Ein aufgeschobenes Leben schreibt Dita: »Jeder, der dies liest, wird sich fragen: Kann man so etwas erleben, ohne verrückt zu werden? Man kann. Es scheint, als hätte es die Natur so eingerichtet, dass der Mensch sich sogar vor einer solchen Hölle zu schützen vermag.«
Nach dem Krieg kehrte Dita nach Prag zurück, wo sie Ota Kraus wiedertraf und heiratete. 1949 emigrierten sie gemeinsam nach Israel. Dort lebten sie unter schwierigen Bedingungen im Kibbuz, arbeiteten und zogen ihre Kinder groß. Beide unterrichteten unter anderem Englisch im Kinder- und Jugenddorf Hadassim und waren wichtige Bezugspersonen für viele Waisenkinder.
In den letzten 25 Jahren ihres Lebens pendelte Dita zwischen Israel und Prag.
Doch auch nach dem Krieg blieb Dita vom Schicksal nicht verschont: Zwei ihrer drei Kinder starben, im Jahr 2000 auch ihr Ehemann. In den letzten 25 Jahren ihres Lebens pendelte Dita zwischen Israel und Prag, malte, schrieb und hielt unzählige Vorträge gegen das Vergessen – auch in Deutschland. Besonders eng war ihr Kontakt zur Gedenkstätte Neuengamme.
Unermüdlich sprach sie auch in Zoom-Veranstaltungen, las Zeitungen, verfolgte Nachrichten – immer hellwach, immer engagiert. Dass ihre Enkelsöhne sie in den letzten Monaten ihres Lebens noch nach Israel zurückholen konnten, war für sie ein großes Glück.
Mit ihr ist nun auch die letzte Zeitzeugin meiner Familie gegangen.
Dita war eine beeindruckend unerschütterliche Frau – mit scharfem Verstand, vielen Talenten und einem großen Herzen. Ich werde sie als kluge, mutige, gütige und unglaublich starke Frau in Erinnerung behalten.
Und Kartoffelpuffer werde ich nie wieder essen können, ohne an das Licht ihres besonderen Lebens zu denken.