Paris nach dem Terror

»Aber ich will hier nicht weg«

Paris am Tag danach: An einem der Anschlagsorte versammeln sich trauernde Menschen, um gemeinsam zu gedenken. Foto: Reuters

Im Schaufenster eine Menora, in den Regalen Mandelhörnchen, Nussstrudel, Baklawa, Burekas. Kunden in der Pariser Bäckerei Murciano in der Rue des Rosiers staunen über die vielen Teigwaren und Plätzchen. Michaël Benhamou steht hinter einem Tresen aus Marmor, auf dessen Seite eine Spendenbox für die israelische Armee platziert ist. »Ich habe die Terroranschläge erst einen Tag später mitbekommen«, sagt der Mitarbeiter der Boulangerie. Schließlich sei Schabbat gewesen, Fernseher und Smartphone waren ausgeschaltet, die Familie war unter sich und im Gebet. »Das war wie in einem furchtbaren Film«, sagt der 37-Jährige über die traurigen Ereignisse von Paris.

Hier im Marais, im berühmtesten jüdischen Viertel der Stadt, denkt man in diesen Tagen viel an die Opfer und deren Familien. »Aber auch daran, ob der nächste Anschlag wieder den Juden gilt«, sagt Benhamou. Die Atmosphäre sei sehr angespannt. Als vor wenigen Tagen plötzlich Gerüchte kursierten, es wären Schüsse gefallen, rannten die Menschen durch die Gassen, auch hier vor seinem Geschäft. Manche schrien, versteckten sich in Hauseingängen und Geschäften. Aber es war ein Fehlalarm, vermutlich löste der Knall eines defekten Heizstrahlers diese Panik aus.

Michaël Benhamou meint, Frankreich müsse endlich aufwachen. Im Unterschied zu den Juden hätten sich zuletzt viele nichtjüdische Franzosen immer noch nicht bedroht gefühlt. Selbst nach den Anschlägen im Januar auf die Satirezeitung »Charlie Hebdo« und den jüdischen Supermarkt »Hyper Cacher« hätten viele gedacht, die Attacken hätten eben »nur« Journalisten und Karikaturisten, Juden und Militärs gegolten. Nun aber schossen die Terroristen wahllos auf jedermann: »Ganz Frankreich war das Ziel und unsere Lebensart. Diese Typen wollen uns ihren Lebensstil aufzwingen.«

alija Er denke jetzt oft an die Menschen in Israel, sagt Benhamou. Diese Anspannung im Alltag, die man derzeit in Paris spüre, die sei in Israel schließlich längst Normalität. »Natürlich sprechen jetzt viele in Paris wieder von Alija«, sagt er, auch in seiner Familie sei das Dauerthema. »Aber ich will hier nicht weg, ich bin Franzose, habe meine Gewohnheiten – und in Israel lauert doch auch die Gefahr.«

Zusätzlich zu den bisher 4000 Soldaten in Paris und Umgebung schieben nun weitere 1000 Patrouille. Doch jeder weiß, die Stadt bleibt verwundbar. Der Dachverband der französischen Juden, CRIF, kündigte nach den Attentaten verschärfte Sicherheitsvorkehrungen für die Synagogen und Gemeindezentren an.

Doch es sind auch die Gesten der Einigkeit, die in dieser Zeit so wichtig sind: Der Oberrabbiner von Paris rief dazu auf, in den Synagogen für die französische Republik zu beten und sich der dreitägigen Staatstrauer anzuschließen. Vor der Konzerthalle Bataclan, wo die Terroristen mindestens 89 Menschen ermordeten, sangen Imame und Vertreter der jüdischen Gemeinschaft gemeinsam die Nationalhymne, die Marseillaise.

In die Trauer mischt sich im jüdischen Viertel viel Ratlosigkeit und Wut. Immer wieder sind diese Sätze zu hören: »Wir haben es geahnt«, »Es war nur eine Frage der Zeit« oder: »Es wird weitergehen.«

Der Fleischer einer koscheren Metzgerei steht vor seinem Geschäft, im Schaufenster liegt Gänseleberpastete. Er schimpft über die Täter, »diese Barbaren«. Und er stimmt ein in die Forderungen mancher Politiker: »Die radikalen Imame sollten Frankreich verlassen müssen. Wer sich nicht an die Regeln der Republik hält, muss gehen«, sagt er. Gewiss, die Parteichefin des rechtspopulistischen Front National, Marine Le Pen, sei eine gefährliche Frau, aber in manchem habe sie nun mal Recht: »In den Banlieues, den Vorstädten, da liegen in den Wohnungen viele Waffen«, glaubt er.

europa Im Café des Psaumes sitzen die Gäste auf weichen Stoffbänken. »Kann ich noch einen Tee haben?«, ruft jemand Sylvie Adler hinter dem Tresen zu. Adler ist stolz auf ihr Café, ein Ort jüdischen Lebens in der Rue de Rosiers mit Lesungen und Konzerten. »Aus Respekt vor den Opfern hatten wir am Sonntag nach dem Anschlag geschlossen und auch die Konzerte abgesagt«, sagt sie. Sie fühle sich doppelt getroffen – als jüdische Pariserin und als Französin. Nein, die Alija sei kaum ein Thema unter ihren Gästen, auch sie sei in Frankreich verwurzelt: »Ich bin sehr europäisch, denn mein Vater wurde in Berlin geboren.« Hat sie Angst vor Anschlägen? »Angst verhindert nicht die Gefahr«, sagt sie, »ich bin einfach vorsichtig.«

In der jüdischen Buchhandlung »Librairie du Temple« sind die Anschläge in diesen Tagen immer wieder Thema. Viele Kunden hier kennen jemanden, der an dem lauen Abend des 13. November in der Nähe der Anschläge war oder sogar Opfer wurde. »Wir wussten doch, dass das irgendwann weitergehen wird«, sagt die Buchhändlerin. Rentner Gérard Khenkine stöbert durch die Bücher. Er zieht sein Smartphone aus der Tasche und zeigt ein Foto, das ihm ein Bekannter geschickt hat. Es ist aufgenommen in der Nähe der berühmten Place de Vosges, nicht weit von einer Synagoge. Dort hat jemand auf eine Wand auf Französisch folgende Schlagworte gesprüht: »Israel kriminell / Westen kollaboriert / Stoppt den Krieg«.

Khenkine ist entsetzt: »Die haben das kurz nach den Terrorattacken hingeschmiert.« Man hätte viel mehr den Anfängen wehren müssen, sagt Khenkine. Früher war er Lehrer an einem Gymnasium im Pariser 13. Arrondissement und erinnert sich, wie er 2002 die steigende Anzahl der antisemitischen Ausfälle in Frankreich mit Sorge beobachtete. Auch in der Schule hörte er judenfeindliche und antiamerikanische Sprüche. »Ich habe dem Schulleiter damals gesagt, dass wir etwas dagegen tun müssen – aber er wollte leider keine Strafen aussprechen.«

maschinengewehr Am späten Nachmittag öffnen sich die beiden Türen der orthodoxen Schule in der Rue Pavée. Väter mit schwarzen Hüten holen ihre Kinder ab. Vor beiden Eingängen der Schule steht jeweils ein Soldat mit einem Maschinengewehr. Eine Mutter mit Kopftuch steht neben dem Eingang, um Yonathan abzu-
holen. Der Neunjährige rückt seine Kippa zurecht und sagt: »Ich schlafe seit den Anschlägen schlecht.«

Einer der Soldaten gibt einem Autofahrer ein forsches Zeichen, nicht vor dem Eingang anzuhalten. Yonathan hat sich an die Militärs längst gewöhnt, und er nickt, als die Mutter sagt, dass man froh und dankbar sei, dass sie hier Wache schieben. Yonathan sagt: »Abends bete ich für die Soldaten, dass ihnen nichts passiert, dass sie immer bei guter Gesundheit sind.«

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