Corona

Ziemlich sicher

»Dai«, es reicht: Selbstständige in Tel Aviv fordern finanzielle Corona-Soforthilfe. Foto: Flash 90

»Der Mensch ist ein soziales Wesen« – das sagte schon der gute alte Aristoteles. Und er hatte recht. Aber er sagte nicht, dass der Mensch als »Herdentier« auch ziemlich verblödet daherkommen kann. So geschehen am letzten Wochenende.

Kaum hat die israelische Regierung einige Lockerungen in Sachen Corona bekannt gegeben, stürmten Tausende die Strände. Es herrscht Maskenpflicht in Israel, immer und überall. Doch gerade einmal 70 Prozent tragen Masken. Die anderen tragen entweder gar keine, oder sie laufen im »neuen Look« herum: die Masken lässig irgendwo am Kinn hängend. Was viele Israelis da möglicherweise gerade verspielen, ist ein geradezu beispielhafter Erfolg in der Bekämpfung des Virus.

INSTINKT Keine Frage: Premier Benjamin Netanjahu hatte früher als viele europäische Politiker begriffen, was Sache ist. Man muss »Bibi« nicht mögen, aber einen Instinkt für Gefahr, den muss man ihm zugestehen. Als in Europa lediglich Italien begonnen hatte, mit dem Virus zu kämpfen, wurden in Israel bereits Flüge aus dem asiatischen Raum gecancelt.

Die Ankommenden, insbesondere Israelis, wurden in eine 14-tägige Quarantäne gesteckt und Ausländer nur noch dann hereingelassen, wenn sie nachweisen konnten, dass sie ihre Quarantäne in einer Privatwohnung absitzen würden. Der Shutdown kam dann schnell. Und er war hart. Am Sederabend oder an Jom Haazmaut herrschte totale Ausgangssperre. So mancher blickte neidisch hinüber nach Berlin, wo die Menschen immer noch Spaziergänge und Ausflüge machen durften. Und begriff nicht, warum die Deutschen sich so über den »Verlust der Freiheit« aufregten.

Aber die meisten Israelis hielten sich an die Maßnahmen, und das nicht nur wegen der angedrohten Strafen. Anders als in Deutschland ist man in Israel den Ausnahmezustand gewohnt. Das half nun. Die meisten nahmen es mit Gelassenheit, und die israelische Grundhaltung »Jihije beseder« – Es wird schon gut werden – war in diesem Fall nicht nur eine Floskel, sondern Überzeugung. Hat man nicht schon Schlimmeres durchgemacht? Nun, auch diese Pandemie wird vorübergehen.

ARBEITSLOSENQUOTE Natürlich war nicht alles einfach und unkompliziert. In kürzester Zeit verloren mehr als eine Million Israelis ihren Job. Während diese Zeilen geschrieben werden, beträgt die Arbeitslosenquote mehr als 25 Prozent. Die häusliche Gewalt stieg in Israel wie auch in anderen Staaten, und das Chaos, für das das Gesundheitsministerium mit dem ultraorthodoxen Minister Yaakov Litzman sorgte, war eine einzige Verhöhnung der »Start-up-Nation«, die stolz darauf ist, bereits das 22. Jahrhundert anzuvisieren. So erklärte Litzman, alles werde gut, da der »Meschiach« noch vor Pessach kommen werde. Und steckte sich mit dem Virus an, weil er selbst zum Minjan ging, obwohl das offiziell nicht erlaubt war.

Netanjahu hatte früher als viele europäische Politiker begriffen, was Sache ist.

Der Premier ließ den Nichtgehorsam der ultraorthodoxen Gemeinde bezüglich des Lockdown und Versammlungsverbots wider besseres Wissen allzu lange gewähren. Und warum? Weil Bibi sich die Unterstützung der frommen Parteien beim Machtgerangel um eine neue Regierung sichern wollte. Irgendwann musste er Ernst machen. So befahl er die Abriegelung der frommen Städte oder Stadtviertel. Aber da war es bereits zu spät. Heute, Mitte Mai, stammen 37 Prozent der Toten allein aus der ultraorthodoxen Stadt Bnei Brak und den frommen Vierteln von Jerusalem.

Aber sonst sind die israelischen Zahlen erstaunlich: Am 11. Mai wurden lediglich 23 Neuinfektionen innerhalb der letzten 24 Stunden registriert, seit Ausbruch der Pandemie gibt es »nur« 252 Tote. Die Infektionsrate sinkt. Israel scheint also alles richtig gemacht zu haben, selbst wenn zwischendurch Informationschaos herrschte und auch jetzt, bei den Regularien, wie und wann Schulen, Geschäfte und Restaurants wiedereröffnet werden dürfen, der übliche israelische Balagan am Werk ist und niemand so richtig weiß, was nun eigentlich erlaubt ist und was nicht.

DECKMANTEL Schlimm ist allerdings eine Entwicklung, vor der sich alle Demokratien fürchten müssen: dass unter dem Deckmantel der Pandemie Maßnahmen ergriffen werden, die antiliberal sind. Nein, damit sind nicht die Lockdowns gemeint, wie Uneinsichtige des »Widerstand 2020« in Deutschland meinen. Sondern das Aushebeln der Demokratie, wie dies gerade in Ungarn geschehen ist.

Auch in Israel ist mindestens eine Maßnahme mehr als fragwürdig: Schon früh wurde der Inlandsgeheimdienst Schin Bet damit beauftragt, die eigenen Staatsbürger mit einer speziellen Technologie, die sonst nur für den Anti-Terror-Kampf eingesetzt wird, zu überwachen. Dabei sollten »lediglich« die Wege der Menschen über ihr Handy gecheckt werden, um sie in die Quarantäne zu schicken, falls sie mit einem Infizierten in Berührung kamen. Doch natürlich wurde die Maßnahme inzwischen verlängert, und die Gefahr, dass der Staat auch in Zukunft seine eigene Bevölkerung überwachen wird, ist groß.

Es bleibt abzuwarten, was die »neue Freiheit«, die die Israelis wieder genießen, tatsächlich bedeutet. Kommt die zweite Infektionswelle, und wenn ja, wie stark wird sie sein? So wie sich viele verhalten, muss man leider Schlimmes befürchten. Und alles, was Israel erreicht hat, könnte bald zunichtegemacht werden.

Der Autor ist Editor-at-Large beim BR/ARD, Publizist, Buchautor und Hochschuldozent. Er lebt in Tel Aviv.

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