Protest

Wut und Enttäuschung

Fühlen sich benachteiligt: junge äthiopischstämmige Israelis Foto: Flash90

Sie sind jung, und sie sind wütend. Tausende von Israelis äthiopischer Herkunft demonstrierten tagelang im ganzen Land, oft gewalttätig. Nachdem der 19-jährige Solomon Tekah am 30. Juni in Kiriat Chaim von einem Polizisten, der nicht im Dienst war, erschossen wurde, kochte die Wut über. Die Demonstranten lieferten sich Straßenschlachten mit den Sicherheitskräften, zündeten Mülltonnen und Autos an und blockierten zur Hauptverkehrszeit die Straßenkreuzungen der großen Städte.

»Wir müssen aufhören, ich wiederhole: aufhören und gemeinsam nachdenken, wie wir von hier aus weitergehen können.«Reuven Rivlin

Mehr als 100 junge Leute wurden verhaftet, Dutzende Polizisten verletzt, als die Proteste nach der Beerdigung eskalierten. Die »äthiopischen Proteste«, wie sie von den Initiatoren genannt werden, wollen erreichen, dass der systematische Rassismus gegen die dunkelhäutigen Israelis endlich aufgedeckt wird, erklären sie. Die meisten Demonstranten indes verwehren Journalisten Interviews, weil »die weiße Presse uns sowieso nur hintergeht«, so die gängige Meinung.

FRAGEN Präsident Reuven Rivlin wandte sich an die äthiopische Gemeinde: »Schwestern und Brüder, Mitbürger des Staates Israel. Dies sind sehr schwere Tage. Solomon Tekah, der sein Leben verloren hat, ist in unser aller Gedanken, und die Fragen sind brennend und schmerzhaft.« Dann richtete er sich an die Demonstranten mit den Worten: »Wir müssen aufhören, ich wiederhole: aufhören und gemeinsam nachdenken, wie wir von hier aus weitergehen können. Das Leben unserer Brüder und Schwestern wird niemals aufgegeben. Wir müssen die Untersuchungen zu Solomons Tod erlauben und den nächsten Tod verhindern, den nächsten Angriff, die nächste Erniedrigung. Darin sind wir uns alle einig.«

Die Familie von Tekah, der erst vor sechs Jahren nach Israel gekommen war, forderte nach dem Ausbruch der gewalttätigen Proteste einen vorläufigen Stopp und bat um Ruhe bis zum Ende der siebentägigen Trauerzeit Schiwa. Tatsächlich gingen die Menschen vorerst nicht mehr auf die Straßen. Doch am Montag begannen die Demos erneut, allerdings friedlich. Auch die Angehörigen des Getöteten beteiligen sich. Sie wollen erreichen, dass der Polizist, der für den Tod verantwortlich ist, wegen Mordes vor Gericht gestellt wird.

Sein Motiv ihrer Meinung nach: Rassismus. »Das ist kein Totschlag, das ist Mord«, meint Amir Tekah und vergleicht den Tod seines Cousins mit dem von Yehuda Biadga. Der psychisch kranke Mann war Anfang des Jahres in Bat Yam von einem Polizisten erschossen worden, als er mit einem Messer herumfuchtelte. Auch dieser Fall wurde von der äthiopischen Gemeinde aufs Schärfste kritisiert. Der Polizist wurde freigesprochen.

»Wir werden nicht aufhören, bis sich die Situation ändert«, sagten Familienangehörige von Tekah im Fernsehinterview. »Als die Polizei uns darüber informierte, dass Solomon eine kriminelle Vergangenheit hatte, war es, als ob er noch einmal ermordet wird. Sagen wir, er hatte eine gewisse Geschichte. Ist das ein Grund, ihn zu exekutieren? Was ist das, eine kriminelle Organisation?«

ANGRIFF Der Polizist jedoch verteidigte sich und erklärte, er habe um sein Leben und das seiner Familie gefürchtet. Er sei in dem Viertel mit seiner Frau und seinen Kindern spazieren gegangen, als er gesehen habe, dass eine Gruppe von äthiopischstämmigen Jugendlichen, die angetrunken wirkten, einen 13-Jährigen attackierten. Der Polizist sagte aus, er habe sich als solcher zu erkennen gegeben, als er dazwischenging. Doch die Jugendlichen hätten ihn angegriffen und Steine geworfen. Daraufhin habe er einen Warnschuss auf den Boden abgegeben. Die Kugel jedoch sei vom Boden abgeprallt, habe Tekah getroffen und ihn getötet.

Eine vorläufige erste Untersuchung bestätigt diesen Tathergang. Der Anwalt des Polizisten, Yair Nedshi, sagte, dass die Ergebnisse die Beschreibungen des Verdächtigten bestätigen, er habe in Selbstverteidigung gehandelt. »Die forensischen Tests, inklusive pathologischer Analyse, ballistischer Tests und einer Prüfung der Waffe wurden durchgeführt«, so eine offizielle Erklärung der internen Untersuchungsabteilung der Polizei. Zugleich wurde betont, dass die Untersuchungen weitergehen, es jedoch »unmöglich ist, zu einer eindeutigen Schlussfolgerung zu kommen, was zu dem tragischen Vorgang führte«.

Der Polizist könnte dennoch in einem Disziplinarverfahren vor Gericht gestellt werden, weil er statt auf den Boden in die Luft hätte schießen sollen. Doch es ist unwahrscheinlich, dass er wegen Totschlags oder sogar wegen Mordes angeklagt wird.

Die Untersuchungen bestätigen die Version des beschuldigten Polizisten.

Die ersten rund 6500 äthiopischen Juden kamen Mitte der 80er-Jahre ins Land. »Operation Moses« war eine Rettungsaktion vor Krieg und Hunger in dem afrikanischen Land. Die Menschen sehen sich als Nachfahren des antiken israelitischen Stammes Dan. Es folgten Tausende weitere. Heute leben rund 150.000 äthiopischstämmige Juden in Israel. Doch die Neuankömmlinge tun sich oft schwer in dem westlich orientierten und hochtechnisierten Staat. Einige von ihnen haben sich in Gesellschaft und Politik etabliert, sind Mitglieder der Polizei, Knessetabgeordnete, erfolgreiche Sportler oder Künstler. Überdurchschnittlich viele junge Männer dienen in Kampfeinheiten der Armee. Dennoch leidet die Gemeinde unter weitverbreiteter Armut, häuslicher Gewalt und dem, was viele als »alltägliche Diskriminierung, Rassismus und Polizeigewalt« bezeichnen.

GESETZE Regierungschef Benjamin Netanjahu versicherte, dass er »nicht nur leere Worte« machen wolle. »Wir alle trauern um Solomon Tekah. Seine Familie und die äthiopische Gemeinde liegen uns am Herzen. Ich weiß, dass es Probleme gibt, die gelöst werden müssen. Wir haben hart gearbeitet, um sie zu lösen – und müssen noch stärker daran arbeiten.« Dann machte er klar: »Hört auf, die Straßen zu blockieren. Wir sind ein Rechtsstaat. Lasst uns die Probleme lösen, während wir die Gesetze achten.«

»Das haben wir versucht. Immer wieder, immer wieder«, entgegnet Schlomo Avera, Angestellter einer Sicherheitsfirma in Tel Aviv. »Wenn wir friedlich um etwas bitten, hört uns niemand zu. Wenn wir lautstark etwas verlangen, werden wir weggeschickt. Die einzige Zeit, in der man uns respektiert, ist die in der Armee. Haben wir die Uniform ausgezogen, sind wir wieder die Sch’chorim – die Schwarzen.«

»Wir werden als Juden angesehen und gehören theoretisch in Israel dazu. Praktisch aber nicht«, resümiert er. Der Grund dafür sei simpel: Rassismus. Für Israelis äthiopischer Abstammung sei es mindestens zehnmal so schwer, in der Gesellschaft Erfolg zu haben. »Andere Olim haben es viel leichter. Es ist alles wegen der Hautfarbe, und das ist schrecklich frustrierend.«

»Ich bin gegen Gewalt und gehe auch bei den Demonstrationen nicht mit«, macht Avera klar. Er hat Angst vor Polizeigewalt und drei Kinder zu Hause, denen er ein Vorbild darin sein will, dass man es durch harte Arbeit dennoch zu etwas bringen kann. Verstehen indes kann er jeden einzelnen der Protestierenden. »Sie sind wütend. Und diese Wut kommt von tiefer Enttäuschung.«

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