Wenn der Trauerflor des Jom Hasikaron gegen das Partyoutfit getauscht wird, ändern die Israelis auch ihre Gemütslage binnen Minuten. Unmittelbar nach dem nationalen Gedenktag für die gefallenen Soldatinnen und Soldaten sowie die Opfer von Terror beginnt die Geburtstagsparty des Staates – Jom Haazmaut. In diesem Jahr wird der jüdische Staat 75 Jahre alt.
Der rasche Wechsel zwischen Leid und Freud steht symbolisch für das Leben in Israel. Allgegenwärtig ist das große Glück, als Juden einen eigenen Staat zu haben – und gleichzeitig der immense Preis, Kriege und Terror, den die Menschen dafür zahlen mussten.
»Uns selbst Fragen zu unserer Identität und unserem gemeinsamen Ziel zu stellen, ist ein Geschenk«, sagte Präsident Isaac Herzog in einer Ansprache, bei der er sich zum 75. Geburtstag der jüdischen Demokratie an die Juden in aller Welt wandte. »Ein Land zu haben, das wir gemeinsam gestalten, gemeinsam teilen und in dem wir sogar streiten können, war vor nicht allzu langer Zeit ein ferner Traum. Und es ist ein Segen, den wir nicht als selbstverständlich ansehen sollten.«
Der rasche Wechsel zwischen Leid und Freud steht symbolisch für das Leben in Israel.
»Liebe Freunde, diese turbulenten Zeiten zeigen, wie viel wir in den letzten 75 Jahren in diesem Land aufgebaut haben und wie wertvoll es für so viele ist«, betonte Herzog. »Sie unterstreichen die tiefe Fürsorge von Millionen Menschen innerhalb und außerhalb Israels, denen unsere Nation zutiefst wichtig ist. Und es ist genau diese Qualität der tiefen Fürsorge, die unserem Volk geholfen hat, seit Jahrtausenden zu überleben und zu gedeihen.«
HÄMMER »Wer bauen will, muss hämmern«, lautet das Motto am Erew Jom Haazmaut vor allem bei den Kindern. Mit blau-weißen »Patischim« donnern Mädchen und Jungen auf alles, was nicht niet- und nagelfest ist. Doch sie bauen keine Häuser und bessern auch nichts aus. Es sind überdimensionale aufgeblasene Gummihämmer, die für die Aussage stehen: »Wir sind hier, und wir bleiben hier.«
Oberschülerin Noga Azoulai drischt damit auf dem Habima-Platz in Tel Aviv auf ihre Klassenkameraden ein. Eine Schlacht? »Vielleicht ein bisschen«, ruft sie atemlos. »Am Jom Haazmaut können wir ausgelassen und fröhlich sein. Das ist gut nach den ganzen Trauertagen, an denen wir an unsere Toten gedacht haben.«
Ihre Mutter Michal Azoulai schaut der Gruppe amüsiert zu. Gemeinsam mit einer Freundin hat sie sich auf einer Bank niedergelassen, eine Flasche Sekt und zwei Gläser mitgebracht. »Wir stoßen auf Israel an. Auf all das, was dieses kleine Land in so kurzer Zeit geschafft hat, was unsere Großeltern, unsere Eltern und wir aus diesem Stückchen Wüste gezaubert haben. Darauf sind wir wirklich unglaublich stolz.«
Zeremonie Rund 60 Kilometer entfernt fand zur selben Zeit in Jerusalem die offizielle Zeremonie des Jom Haazmaut statt. Premierminister Benjamin Netanjahu wandte sich dabei an die israelischen Bürger: »Lassen wir den ganzen Lärm für einen Moment ruhen. Schauen wir uns an, wie viele Wunder wir in den letzten 75 Jahren geschaffen haben. Als ein Volk sind wir aus der Asche des Holocaust aufgestiegen zum Gipfel der Wiedergeburt.«
Als Beispiele besonderen Stolzes auf die Nation benannte er unter anderem Israels erfolgreiche Wirtschaft, die Friedensabkommen mit arabischen Ländern und die israelische Armee.
Bei der Zeremonie entzündeten Israelis Fackeln, darunter Ärzte, ehemalige Minister, ein Basketballtrainer, Leiter von Elite-Spezialeinheiten der Armee und junge Leute, die sozial etwas bewegen. Einer von ihnen, der Komiker und Schauspieler Shalom Asayag, sagte: »Ich erhebe diese Fackel zu Ehren meiner Eltern, die aus Marokko in die Peripheriestädte in Israel einwanderten.«
Sie hätten nicht viel Materielles gehabt. »Aber wir hatten viele Werte, Wärme und Liebe. Und meine Eltern lehrten uns, jeden Menschen zu lieben.« Er wandte sich sodann an die Bewohner israelischer Kleinstädte und Dörfer: »Wenn man Sie Peripherie nennt, hören Sie nicht zu. Sie sind das Herz des Landes, welches das wundervolle israelische Mosaik bildet.«
Die Leute tanzen, johlen und winken mit Flaggen. Aus den Häusern klingt Partymusik.
Aus den Häusern im ganzen Land klingt an diesem Abend Partymusik, die neuesten israelischen Hits und internationale Chartkracher sind zu hören. Die Leute tanzen, johlen und winken mit Israel-Flaggen.
In Tel Aviv steigt zur selben Zeit eine Demonstration: Die Organisatoren wollen die größte Demo aller Zeiten veranstalten. An diesem bedeutenden Geburtstag, um der Regierung ein besonders ausdrückliches Zeichen zu senden, wie wichtig ihnen die Demokratie ist. Das ist ihnen nicht ganz gelungen. Es sind nur einige Zehntausende, die an diesem Abend auf die Kaplan-Straße in Tel Aviv gekommen sind.
demonstration Ein Zeichen setzen will auch Hadass Levy aus dem Moschaw Ge’a in der Nähe des Gazastreifens. Sie ist extra für die Demonstration nach Tel Aviv gekommen. »Ja, wir haben gewählt. Und ja, die Regierung hat die Mehrheit«, kämpft ihre Stimme gegen die laute Musik an. »Aber sie haben nicht das Mandat, das Land zu zerstören und Gesetze zu verabschieden, die sich gegen die Demokratie und die Bevölkerung wenden. Das dürfen wir nicht erlauben.«
Doch auch hier, auf der Kaplan-Straße, wo seit 17 Wochen unablässig und erbittert demonstriert wird, mutiert der Protest heute eher zur großen Party. Im blauen Kleid singt Aya Koren ein Lied über die Demokratie und später ihren größten Hit: »Paschut Ahava« – Einfach nur Liebe.
Zwischen den Rednern legt DJ Bamba auf. Zu den Technobeats schwenken die Menschen rhythmisch ihre mitgebrachten Flaggen. Auf den Bildschirmen flackern die Zahl 75, Davidsterne und Herzen: »Happy Birthday, Israel. We love you«. Die Organisatoren verteilen kostenlos T-Shirts mit der Aufschrift »Israel 75« und einer blau-weißen Fahne darüber.
symbol »Feiern und Demonstrieren schließen sich nicht aus«, resümiert der 86-jährige Shalom Weiss, der sich das Shirt übergezogen hat. Er hat seit 1967 in allen Kriegen für das Land gekämpft, war jahrzehntelang Reservist in seiner Einheit. Er zuckt mit den Schultern und lacht. »Aber dass es auch am Jom Haazmaut so viele sind, die auf den Straßen für die Demokratie kämpfen, ist ein wichtiges Symbol.«
»Feiern und Demonstrieren schließen sich nicht aus«, resümiert der 86-jährige Shalom Weiss.
Und er fügt hinzu: »Wir sind stolz auf Israel und lieben dieses Land über alles. Wir haben kein anderes und wollen auch kein anderes! Wir müssen es so weiterführen, wie unsere Gründer es geplant und in der Unabhängigkeitserklärung unterschrieben haben.«
Die Unterzeichner stammten schließlich aus allen Bevölkerungsschichten, erklärt er: säkulare und religiöse, linke und rechte Juden, Aschkenasim und Misrachim. »Sie haben mit ihrer Unterschrift für einen Staat gebürgt, in dem alle Bewohner die gleichen Rechte haben. Für einen jüdischen und demokratischen Staat.«
Dass dieser auch in 75 Jahren noch bestehen möge, wünscht sich Weiss und schwenkt seine blau-weiße Flagge. »Ja, sogar bis in alle Ewigkeit.«