Psychologie

»Wir sind extrem belastbar«

Herr Lahad, Israel ist seit der Staatsgründung im ständigen Krieg, erlebte unzählige militärische Einsätze und Terroranschläge. Ganze Städte stehen seit Jahren unter Raketenhagel – sind Posttraumatische Belastungsstörungen mittlerweile Teil der israelischen Identität?
Israelis sind immer in einer Art »Überlebensmodus«. Wir gehen überfürsorglich mit unseren Kindern um, wir reagieren auf geringste Auslöser, sind ständig auf der Hut und nicht zuletzt leicht erregbar. Gleichzeitig zeigen meine Studien, dass unsere Gesellschaft extrem stabil und belastbar ist. So viel Leid wir auch erleben, genauso viel Widerstandskraft tragen wir in uns. 80 Prozent der Menschen, die solchen bedrohlichen Situationen ausgesetzt sind, reagieren auf diese in irgendeiner Art und Weise. Davon erholen sich 80 Prozent alleine und ohne Hilfe. Natürlich gehören die Menschen, mit denen ich arbeite und deren Verhaltensweisen ich am besten kenne, zu den restlichen 20 Prozent. Aber die Mehrheit der Israelis hat die Fähigkeit, sich zu erholen und zu einem normalen Leben zurückzukehren. Das liegt auch daran, dass es in Notzeiten in Israel eine hohe Mobilisierung von Unterstützungsmaßnahmen gibt. In Krisensituationen gibt es eine Großzügigkeit, die man ansonsten kaum findet.

Nach dem Terrorangriff in Tel Aviv im November kamen kurz, nachdem der Bus explodiert war, Gärtner der Stadtverwaltung und bepflanzten den Grünstreifen neu, auf den die Asche gefallen war. Ist das die Philosophie des Landes: Schnell weiterzumachen und nicht in Schockstarre zu verharren?
Ja. Auch bei den Ereignissen der letzten Monate im Süden Israels konnte man beobachten, dass die Schäden, die durch Raketeneinschläge entstanden, schnell repariert wurden. Das sendet eine Nachricht nach innen. Es zeigt, dass das Leben in unserer Hand liegt und weitergehen muss. Das steht eigentlich dem Charakter des jüdischen Volkes entgegen, denn wir Juden leben intensiv mit den Erinnerungen und unserer Geschichte. Und es ist interessant, dass so ein erinnerungsorientiertes Volk alles tut, um so schnell wie möglich Normalität wiederherzustellen. Das ist eine einzigartige Kombination: Sich einerseits intensiv an diejenigen zu erinnern, die wir verloren haben, andererseits aber sich konsequent dem Leben zuzuwenden.

Weitermachen als Therapie?
Wir leben nun einmal unter sehr besonderen Bedingungen, mit Kriegen und der Tatsache, dass unsere Existenzberechtigung ständig infrage gestellt wird – und das ist unsere Art, damit umzugehen und uns selbst zu versichern, dass wir okay sind. Im Endeffekt hatten wir nie Zeit, in Ruhe unser Land aufzubauen. Und nach jedem Rückschlag mussten wir schnell einen Weg finden, uns wieder zu berappeln. Das hat Menschen dabei geholfen, Wege zu finden, sich schnell von Schlägen zu erholen. Wir müssen improvisieren und kreativ und flexibel sein.

Hat das auch negative Kehrseiten?
Ja. Wir sind rau, rastlos, zynisch, aggressiv und gleichzeitig extrem sensibel. Diese Kombination kann niemand von außen verstehen. Und es ist schwierig für uns, diejenigen zu verstehen, die anders reagieren oder die unser Verhalten kritisch reflektieren.

Eben weil Israelis in so einer speziellen Situation leben: Was sind die besonderen Herausforderungen bei der Behandlung von Posttraumatischen Belastungsstörungen im Vergleich zu anderen Ländern?
Die größte Herausforderung ist eigentlich, dass die Bezeichnung posttraumatisch für Israel nicht zutrifft. Eigentlich sollte es ja so sein: Wenn ich jemanden behandle, liegt das Trauma bereits in der Vergangenheit. Aber in Israel kommen wir nie an den Punkt, an dem man sagen kann: Jetzt ist es posttraumatisch. Es passiert kontinuierlich etwas. Die Menschen haben kaum Zeit, sich zu erholen. Erschwerend kommt hinzu, dass normalerweise der Therapeut sonst auf der Welt nicht denselben Bedrohungen ausgesetzt ist wie der Patient. Im Süden Israels aber sitzen Patient und Therapeut zusammen in der Praxis – plötzlich gibt es Raketenalarm, und sie müssen beide flüchten. Wo holt man da die Fähigkeit her, jemanden zu behandeln, wenn man selbst unter den gleichen Umständen leidet?

Welche Antworten findet Ihr Zentrum auf diese Herausforderungen?
Wir glauben, dass die Betreuung in einem größeren Rahmen stattfinden muss und der Patient nicht nur als Individuum gesehen werden kann, wie das bei der Behandlung in anderen Ländern der Fall ist. Deswegen haben wir sogenannte Resilienz-Zentren entwickelt, in denen wir nicht nur die Opfer, sondern die ganze Familie behandeln. Das ist auch deswegen sinnvoll, weil wir zum Teil Symptome bei Kindern beobachten, deren Eltern bereits unter Posttraumatischer Belastungsstörung leiden.

In Sderot im Süden Israels zeigen mehr als 44 Prozent der Kinder und Jugendlichen Anzeichen einer Posttraumatischen Belastungsstörung. Ist es schwieriger, Kinder zu behandeln?
Sie sind die kompliziertesten Fälle, weil wir nicht nur sie, sondern auch die Eltern behandeln müssen. Diese fühlen sich, als hätten sie versagt. Sie konnten ihre Kinder nicht beschützen. Und anders als die Kinder sehen und begreifen sie das Ausmaß der Bedrohung.

Sie betreuen seit Jahren auch Schoa-Überlebende. Welche Erfahrungen haben Sie mit diesen Patienten gemacht?
Schoa-Überlebende sind natürlich besonders schwere Fälle, denn sie müssen mit multiplen Verlusten umgehen: Sie haben Familienmitglieder verloren, Freunde, ihr Zuhause, oftmals ihre Sprache. Und trotzdem: Der Großteil von ihnen hat es geschafft, wie Phönix zurück zum Leben zu kommen. Das wurde jahrelang nicht genügend gewürdigt. Diese Menschen wurden als Opfer bezeichnet, als Zeugen, als Überlebende – aber niemand hat über ihre Fähigkeiten gesprochen, weiterzuleben.

Angesichts der Monstrosität der Schoa fällt es manchmal schwer, zu glauben, dass Menschen damit fertig werden können.
Durch meine Studien konnte ich sechs Aspekte identifizieren, die bei der Bewältigung eine Rolle spielen: der Glauben an etwas (Belief), der Ausdruck von Gefühlen (Affect), der soziale Aspekt (Social), die Fantasie (Imagination), das Festhalten am Verstand (Cognition) und an der Körperlichkeit (Physical). Ich bezeichne das mit den Anfangsbuchstaben als »BASIC PH-Modell«.

Wir haben viel über die Behandlung von Posttraumatischen Belastungsstörungen gesprochen. Was kann getan werden, um Menschen schon besser auf traumatische Situationen vorzubereiten?
Wir haben Resilienz-Programme in Schulen und Kindergärten eingeführt. Wir beziehen die Gemeinden und Freiwillige in unsere Arbeit ein. Gerade bei Kindern versuchen wir, diese so gut wie möglich mit den Mitteln auszustatten, die ihnen im Falle einer Notsituation dabei helfen werden, mit dieser klarzukommen. Wir liefern eine schnelle, zeitnahe Behandlung im Fall von traumatisierenden Erlebnissen. Aber das ist ein bisschen wie mit einer Grippe: Genauso wenig wie man Viren, die bereits herumschwirren, stoppen kann, können wir heran fliegende Raketen aufhalten. Aber wir können den Menschen helfen, ein gutes Immunsystem zu entwickeln.

Mooli Lahad geboren 1953, ist Psychologe, Traumaspezialist und Gründer des »Community Stress Prevention Center« in Kiryat Schmona, das Methoden und Modelle zum Umgang mit Massenkatastrophen entwickelt hat. Lahad berät die israelische Behörde für nationale Sicherheit, die Zahal und die UNICEF. Er war auch im NATO-Komitee für die psychosoziale Vorbereitung auf Notsituationen tätig. Neben seiner Arbeit in Israel war Lahad unter anderem in der Türkei (nach dem Erdbeben 1999), den USA (nach dem 11. September), in Sri Lanka (nach dem Tsunami 2004) und in Deutschland (nach dem Amoklauf von Winnenden 2009) im Einsatz. Mooli Lahad hat mehr als 30 Bücher und Fachartikel verfasst und wurde unter anderem mit dem Elena-Bonner-Preis der israelischen Gemeinschaft für Psychologie sowie dem israelischen Sapir-Preis ausgezeichnet.

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