Ehrung

»Wir Nichtjuden sind in der Pflicht«

Paul-Spiegel-Preisträgerin Karoline Preisler Foto: Yalcin Askin

Ehrung

»Wir Nichtjuden sind in der Pflicht«

Am Mittwochabend wurde Karoline Preisler mit dem Paul-Spiegel-Preis des Zentralrats der Juden in Deutschland ausgezeichnet. Wir dokumentieren ihre Dankesrede

 05.11.2025 19:59 Uhr

Den Paul-Spiegel-Preis zu erhalten, ist für mich eine überwältigende Ehre. Mein Dank gilt der Jury, Ihnen allen hier, allen Engagierten in Gesellschaft und Politik, den Menschen im Ehrenamt, den Machern, meiner Familie und meinen Freunden. Gemeinsam setzen wir uns für eine freie, einende und faire Gesellschaft ein.

Paul Spiegel verkörperte Weisheit, Dialog und unermüdliches Engagement für eine starke Bürgergesellschaft. Rassismus, Antisemitismus und Fremdenfeindlichkeit hatten keinen Platz in der Gesellschaft, für die er leidenschaftlich eintrat. Paul Spiegel glaubte an freie Menschen und an Vielfalt. Sein Erbe mahnt uns, dass Demokratie und Menschlichkeit täglich durch Zivilcourage verteidigt werden müssen – gegen Hass, gegen Ausgrenzung und gegen das Vergessen.

Für mich persönlich ist dieser Preis mehr als eine Ehrung. Er ist eine Anerkennung meiner Überzeugungen, ein Ansporn, nicht nachzulassen; und eine Brücke zu Spiegels Vision von einer Gesellschaft, in der Menschenliebe und Weltoffenheit gestärkt werden. Und es ist eine Auszeichnung auch für alle die, die man nicht sieht, obwohl ihr Tun ein Segen für uns alle ist.

Der 7. Oktober 2023 hat alles verändert. Mehr als 1200 Menschen fielen in Israel einem brutalen Terrorakt der Hamas zum Opfer – ermordet, misshandelt, verschleppt. Unter ihnen war auch die Berliner Studentin Carolin Bohl, die hier ganz in der Nähe wohnte und nie mehr nach Hause kommen wird.

Der 7. Oktober hat verhärtete Fronten aufbrechen lassen, auf der Welt, in Westeuropa und hier vor unserer Tür. Sehr deutlich kippten angeblich pro-palästinensische Proteste in blanken Antisemitismus um – mit Parolen wie »From the river to the sea« oder »Von Berlin bis nach Gaza, yallah, yallah, Intifada.«, die nichts anderes als die Auslöschung Israels und der Juden fordern. Sie hier im Saal haben stets widersprochen. Sie sind und waren sichtbar. Sie und ich halten womöglich unsere Zukunft in den Händen.

Meinen Platz in dieser Gesellschaft habe ich mir erkämpft. Vor 36 Jahren, am 4. November 1989, trat ich mit rund 500.000 Menschen hier ganz in der Nähe auf dem Berliner Alexanderplatz noch in der DDR für unsere Freiheit ein, die wir durch den Mauerfall am 9. November erlangten. Mein Weg in die Freiheit führte über die deutsche Wiedervereinigung und Angebote politischer sowie gesellschaftlicher Teilhabe in der Bundesrepublik Deutschland.

Zuvor, im Jahr 1985 und danach, hatte die Staatssicherheit der DDR meine geschriebenen Worte kontrolliert und zensiert. Heute darf ich offen sprechen und schreiben. Das Handwerkszeug und die Bedingungen hierzu verdanke ich Ihnen, demokratischen Strukturen, einer freien Gesellschaft. Das bedeutet mir viel.

Vielleicht ist das alles mein Warum. Weil ich die Unfreiheit noch kenne. Demokratische Werte sind zum Glück robust, gegründet auf individueller Autonomie, der Gleichheit unter Gleichen und der Verurteilung von Gewalt und Hass. Doch Freiheit heißt nicht, alles hinzunehmen. Freiheit ist auch anstrengend. Demokratische Werte sind nicht unkaputtbar. Hat man sich für das Warum entschieden, spielt das Wie eine Rolle. Ich wünschte, mein friedliches Engagement würde meine Familie und die mich schützenden Polizisten nicht in Lebensgefahr bringen. Doch mein Tun hat bedrohliche Folgen. Solche Verhältnisse beleidigen unsere Streitkultur, unsere Demokratie. Solche Verhältnisse sollten wir alle persönlich nehmen. Ich nehme es gezwungenermaßen sehr persönlich.

Der 7. Oktober hat die Welt verändert. Insbesondere die Welt der Jüdinnen und Juden. Antisemitismus und Israelhass werden nicht mehr hinter vorgehaltener Hand verdruckst vorgetragen. Nein, Antisemitismus macht Mode und kommt im Kleid der Revolution daher. Menschen werden verfolgt, ausgegrenzt, gejagt und gedemütigt, weil sie Juden sind oder gegen Antisemitismus auf die Straße gehen. Doppelstandards, Delegitimierung und Dämonisierung werden als Waffe gegen Juden eingesetzt. Alle Hemmschwellen sind gefallen.

Meine Haltung hierzu ist härter geworden, weil ich das Spiel kenne. In Westeuropa schwinden die Errungenschaften der Aufklärung: Fakten verlieren an Bedeutung, Gefühle dominieren, werden wie auf einem Klavier bespielt und uralte Ressentiments schleichen sich ein.

Machen wir uns nichts vor: Antisemitismus betrifft nicht allein die jüdische Gemeinschaft – er ist eine Herausforderung für die gesamte Gesellschaft. Antisemitismus untergräbt unsere Demokratie als Urform von Verschwörungserzählung und Fremdenhass.

Dennoch haben wir in jüngster Zeit meiner Beobachtung nach eine trügerische Zurückhaltung gepflegt – eine fehlgeleitete Höflichkeit gegenüber Antisemitismus aus vorgeblich intellektueller Ecke und der Zuwanderungsgesellschaft. Ich halte das für falsch. Wir können – davon bin ich fest überzeugt – den judenhassenden rechten Mob ebenso in die Schranken weisen, wie Menschen in feinem Zwirn oder mit Sprachbarriere. Sie tarnen Judenhass oft als Israelkritik. Gemeint sind gleichwohl der Jude und der Judenstaat.

Dann will ich jetzt mal Deutschlandkritik üben! Erinnern Sie sich daran, dass mal jemand das Wort Deutschlandkritik gesagt hat? Ich jedenfalls nicht. Doppelstandards sind leicht zu entlarven. Zurück zu meiner Deutschlandkritik: Ich erwarte, dass deutsche Staatsbürger sich anständig verhalten. Dazu gehört, dass wir den Juden in Deutschland, die Staatsbürger sind wie Sie und ich, ermöglichen, Gleiche unter Gleichen zu sein. Davon sind wir meilenweit entfernt. Und das ist ein Skandal.

Hass trägt verschiedene Kleider, aber darunter stets Menschenfeindlichkeit, zu oft ein rückwärtsgewandtes Frauenbild und Unterwerfungsforderungen. Unsere höfliche Zurückhaltung gegenüber Menschenfeinden hat uns taub gemacht für die Risiken.

Unsere Höflichkeit kostet uns viel: Sie schürt Misstrauen, vertieft Gräben und nährt Radikale. Menschen, die vor Islamisten geflohen sind und bei uns Schutz suchten, leben wieder in ständiger Angst. Jüdische Familien machen wieder Pläne für eine Flucht. Zuletzt wurde es immer dunkler. Bringen wir das Licht zurück!

Wir alle – als Bürger, Entscheidungsträger, Journalisten, Pädagogen – müssen gesellschaftliche Verantwortung übernehmen. Freiheit für alle hat eine Verantwortungsseite. Jeder ist in der Pflicht, Antisemitismus zu entlarven und zu bekämpfen, überall. Und ganz besonders die nichtjüdischen Menschen hier. Es wäre ein Unding, wenn der Diskriminierte seine eigene Diskriminierung bekämpfen sollte. Nein, es ist unsere Aufgabe, Antisemitismus zu erkennen und zu bekämpfen. Die Aufgabe der Nichtjuden. Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, eine freie Gesellschaft zu bewahren. Für uns alle. Wir sollten uns nichts vormachen, wir haben hoffentlich aus der Vergangenheit gelernt: Nach den Samstagsleuten, trifft es die Sonntagsleute. Hass gedeiht und ist hungrig. Unendlich hungrig. Entziehen wir ihm den Nährboden.

Jeder Einzelne ist gefordert, für eine Welt einzutreten, in der Freiheit und Menschenwürde universell gelten.

Der 7. Oktober hat mich verändert. Immer wieder gehe ich mit meiner protestantischen Nüchternheit und mütterlichem Starrsinn zu Versammlungen und halte dort Gegenrede, weil ich die Straße nicht den Hassenden überlassen will. Zu sehr ist mir bewusst, wie oft ich in der Vergangenheit geschwiegen habe. Wie oft mir hinterher gute Antworten eingefallen sind. Zu spät damals. Nicht zu spät jetzt. Freiheit braucht aktives Tun, nicht nur Worte.

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Paul Spiegel hätte das vielleicht nachvollzogen – er, der Brücken baute und Hass entgegentrat, wusste um den Preis der Freiheit. Für mich ist die heutige Auszeichnung ein Licht in der Dunkelheit: Sie stärkt meinen Willen, lässt mich spüren, dass ein Mensch zählt.

Jeder Mensch zählt…

Meine letzten Worte gelten deshalb den bis heute fehlenden Körpern ermordeter Geiseln im Gazastreifen, die nach Israel zurückkehren müssen, um bei ihren Liebsten zu ruhen sowie der lebenden Geisel Sonja Nientiet, die 2018 in der somalischen Hauptstadt Mogadischu von bewaffneten Islamisten entführt wurde und endlich nach Hause kommen muss.

Bring them home now!

Vielen Dank!

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