Südafrika

Wie eine südafrikanische Jüdin über die Klage gegen Israel denkt

Wendy Kahn, Direktorin des South African Jewish Board of Deputies (SAJBD) Foto: SAJBD

84 Seiten lang ist die Klageschrift. Südafrika hat Israel vor dem höchsten Gericht der Vereinten Nationen Völkermord an den Palästinensern im Gazastreifen vorgeworfen. In der eingereichten Klage beim Internationalen Gerichtshof (IGH) in Den Haag wird zudem verlangt, dass Israel zur Einstellung seiner Angriffe in Gaza aufgefordert wird, teilte der IGH mit. Heute Donnerstag war Prozessauftakt.

Südafrika machte demnach geltend, die Handlungen der israelischen Streitkräfte hätten »völkermörderischen Charakter«, da sie auf die Vernichtung der Palästinenser in diesem Gebiet abzielen würden. Südafrika beruft sich bei der Klage auf die UN-Völkermordkonvention, da sowohl es selbst sowie auch Israel die Konvention unterzeichnet hätten.

Indem die südafrikanische Regierung Israels Vorgehen in Gaza öffentlich als »Völkermord« bezeichnete, hat sie alle ihre bisherigen Kritikpunkte am jüdischen Staat noch übertroffen. »Aber nicht viel«, so Wendy Kahn, die Geschäftsführerin des South African Jewish Board of Deputies (SAJBD), des Dachverbandes der jüdischen Gemeinden Südafrikas.

Kahn bezieht sich auf den schrittweisen Wandel der südafrikanischen Regierung gegenüber Israel in den letzten 15 Jahren. Einst einer der bedeutendsten Partner Israels auf dem Kontinent hat sich Südafrika nach und nach zu einem seiner schärfsten Kritiker entwickelt, indem es Israel einen »Apartheidstaat« nennt und es der »ethnischen Säuberung« und nun auch des Völkermords beschuldigt.

Der Völkermordvorwurf hat sich in den Reihen der Regierung verbreitet, angefangen am 2. November mit Khumbudzo Ntshavheni, einem relativ jungen Kabinettsminister, bis hin zur Äußerung am 17. November durch niemand Geringeren als Präsident Cyril Ramaphosa. Gaza, sagte der Präsident Reportern während eines Staatsbesuchs in Katar, »hat sich mittlerweile in ein Konzentrationslager verwandelt, in dem Völkermord stattfindet«.

Langjährige Beobachter der diplomatischen Beziehungen sagen, dass diese Verschiebung gegenüber Israel Teil einer umfassenderen ideologischen und geopolitischen Neuausrichtung Südafrikas sei, das sein Bündnis mit Entwicklungsländern auf Kosten seiner Verbindungen zum Westen vertieft, obwohl Binnenwirtschaft und Infrastruktur schrumpfen.

»Es ist für die südafrikanisch-jüdische Gemeinschaft äußerst schmerzhaft, zu sehen, wie unsere Regierung in den internationalen Beziehungen mit dem jüdischen Staat einen Ansatz verfolgt, den sie so in keinem anderen Konfliktgebiet verfolgt. Unsere Regierung glaubt stets an Ausgewogenheit und die Suche nach Möglichkeiten der Mediation zur Lösung von Konflikten«, sagt Kahn gegenüber der Jüdischen Allgemeinen.

Man habe dies jüngst beim Krieg zwischen Russland und der Ukraine beobachten können, als Südafrika sich weigert habe, UN-Resolutionen gegen Russland zu unterstützen.

»Gegenüber Israel hat die Regierung jedoch einen feindseligen Ansatz gewählt. Sie weigerte sich, Israel nach dem 7. Oktober ihr Beileid auszusprechen, verurteilte die Hamas nicht für das Massaker, schloss die südafrikanische Botschaft in Israel, richtete eine Demarche an den israelischen Botschafter, begrüßte die Hamas in Südafrika und beschwerte sich bei der israelischen Regierung und jetzt beim IGH. Einst galten klare Regeln und Prinzipien für Konfliktgebiete, die haben sich nun für Israel offenbar stillschweigend geändert«, so die Geschäftsführerin des SAJBD. Was Kahn zudem besonders problematisch findet, ist die Tatsache, dass sich der ehemalige Chef der britischen Labour-Partei, Jeremy Corbyn, der südafrikanischen Delegation im IGH-Fall gegen Israel angeschlossen hat: »Die Involvierung eines bekennenden Antisemiten im Rahmen einer Delegation sagt viel über die Werte und Prinzipien einer Regierung aus.«

Es ist der Tiefpunkt einer Beziehung, die einige inhärente Herausforderungen überstanden hatte, vor allem dank der Führung von Nelson Mandela, der 1994 Südafrikas erster Präsident nach der Apartheid wurde. Mandela unterstützte israelische Gebietszugeständnisse und stand der palästinensischen Sache nahe, aber er unterstützte auch sehr Israel, das er besucht und wo er die Ehrendoktorwürde der Ben-Gurion-Universität erhalten hatte.

Sein Standpunkt war, dass Israel ein Existenzrecht hatte. Mandelas Nachfolger, Thabo Mbeki, setzte diese Linie fort. Doch unter Jacob Zuma, der von 2009 bis 2018 amtierte, drehte der Wind. Zuma war mit mehreren Korruptionsskandalen konfrontiert, die ihn schließlich 2018 zum Rücktritt zwangen, stimmte zu, die Außenpolitik den Radikalen zu überlassen, solange sie ihm nicht im Weg stehen.

Zuman überließ mehr als jeder andere Mandela-Nachfolger den Partnern des Afrikanischen Nationalkongresses (ANC) in den Gewerkschaften und der Kommunistischen Partei die Gestaltung der Außenpolitik. Und hier stellt sich auch die Frage, inwiefern sich eine Verschiebung vom Iran zur Hamas beobachten lässt. Für Südafrika könnte es zusätzliche Anreize geben, Israel gegenüber hart zu agieren. Der ANC kämpft vor den Parlamentswahlen 2024 mit einem rekordtiefen öffentlichen Zustimmungsniveau, das aus der Wut über die Gewaltkriminalitätsepidemie in Südafrika und aus der Sorge heraus entstanden ist, dass das Land durch den Zusammenbruch seiner Infrastruktur zu einem gescheiterten Staat wird.

Häufige Stromausfälle und ein unzuverlässiges öffentliches Verkehrssystem sind das Ergebnis eines Mangels an »einer funktionierenden integrierten öffentlichen Logistikinfrastruktur, bei der Straßen, Schienen und Häfen völlig durcheinander sind«, schrieb William Gumede von der School of Governance an der University of the Witwatersrand in einem Leitartikel vergangenes Jahr.

Für viele der südafrikanischen Juden, deren Zahl auf 50.000 geschätzt wird, ist die antiisraelische Stimmung der Regierung im Vergleich zum offensichtlichen Zusammenbruch der Infrastruktur des Landes, der hohen Kriminalität und der wirtschaftlichen Misere aber ein zweitrangiges Ärgernis. Viele Juden wandern immer noch aus wirtschaftlichen oder Sicherheitsgründen nach Israel oder auch nach Litauen aus, das ein beliebtes Einwanderungsland ist.

Eine überwiegende Mehrheit südafrikanischer Juden hat dort familiäre Wurzeln. Trotz alldem: Viele Juden fühlen sich in Südafrika zu Hause und bleiben in ihren lebendigen Gemeinden. »Man ist nach wie vor sicher, wenn man auf der Straße und auf dem Universitätsgelände Kippot trägt«, konstatiert Kahn und ergänzt: »Zum Glück erleben wir nicht das gleiche Maß an antisemitischer Gewalt wie andere Diaspora-Gemeinschaften.«

Natürlich sei es unangenehm, den antiisraelischen Hass wahrzunehmen. Wie überall auf der Welt nahmen auch die antisemitischen Vorfälle in Südafrika zu. »Letztes Jahr haben wir 120 Fälle registriert.« Dennoch gebe es in Südafrika selten physischen Antisemitismus, seit dem 7. Oktober kam es zu fünf Tätlichkeiten.

Wendy Kahn beobachtet aber immer wieder die Tatsache, dass nichtjüdische Südafrikanerinnen und Südafrikaner oft eine tiefe Verbindung zu Israel haben. »Südafrikaner sind im Großen und Ganzen religiöse Menschen. Wir haben eine unglaubliche Solidarität von den Kirchen erfahren, einschliesslich der Shembe-Kirche, die bei einer unserer Solidaritätsveranstaltungen auch gesprochen hat.«

Sie erinnert sich, als der Dachverband auf Nelson-Mandela-Brücke in Johannesburg eine Sensibilisierungsveranstaltung für Geiseln durchführte, eine grosse Angst im Raum war, mit Anfeindungen konfrontiert zu werden. »Wir beeilten uns, die Geiselplakate und roten Luftballone aufzuhängen, um nicht attackiert zu werden. Doch die Menschen blieben stehen und waren sehr berührt. Einige beteten sogar. Kein einziges der Poster wurde absichtlich entfernt oder beschädigt.«

Trotzdem ist Kahn stellvertretend für viele Juden im Land seit dem 7. Oktober sehr enttäuscht von der südafrikanischen Regierung: »Unsere Regierung hat sich auf die Seite der Hamas gestellt und keinerlei Mitgefühl für die Opfer des Hamas-Terrors gezeigt. In der Woche nach dem 7. Oktober trauerte auch unsere Gemeinschaft wie alle Juden auf der ganzen Welt. In Südafrika konnte sich unsere Regierung nicht dazu durchringen, Israel ihr Beileid auszusprechen oder sich auch nur an die Familien der am 7. Oktober verstorbenen Südafrikaner zu wenden.«

Während Länder auf der ganzen Welt aus Solidarität symbolische Gebäude erleuchteten, habe das offizielle Südafrika angedeutet, dass die Angriffe gerechtfertigt seien. Wir fühlen uns von unserer Regierung betrogen.»

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