Abkommen

Wie sich Israel auf die Rückkehr der Geiseln vorbereitet

Vor allem Kinder sollen unter den ersten Geiseln sein, die freigelassen werden Foto: picture alliance / ZUMAPRESS.com

Ganz Israel wartet in großer Anspannung. Noch ist nicht klar, wer von den bis zu 240 Geiseln aus Gaza freikommt, in welcher Verfassung sie sind und wann sie übergeben werden. Es ist nicht einmal bekannt, wer noch am Leben ist, denn weder bestätigte die Hamas Anzahl oder Namen, noch erhielt das Internationale Rote Kreuz Zugang zu ihnen. Doch die Vorbereitungen in Israel laufen auf Hochtouren. Sechs Krankenhäuser organisieren derzeit spezielle Abteilungen, in denen die Freigelassenen behandelt werden sollen.

Professor Hagai Levine, der Leiter des medizinischen Teams im Familienforum der Geiseln und Vermissten, spricht von »traumatischen Tagen, die hinter uns und noch vor uns liegen«. Derart viele Geiseln, darunter ein Baby und viele Kleinkinder, Alte und Kranke – das sei eine noch nie dagewesene Situation, so Levine, »und ist praktisch Neuland, auch für Experten«.

Mediziner und Therapeuten hätten sämtliche Literatur gelesen, die es auf diesem Gebiet gebe, doch es sei nicht viel. Die Israelis kontaktierten auch ukrainische Kolleginnen und Kollegen, um zu erfahren, auf welche Weise Kinder behandelt wurden, die nach Russland verschleppt und später in ihre Heimat zurückgeholt wurden.

Ohne einen Sonnenstrahl oder Verbindung zur Außenwelt

»Ich habe mit dem Roten Kreuz, dem Generaldirektor der Weltgesundheitsorganisation und vielen anderen Gesundheitsvereinigungen sowie Diplomaten auf der ganzen Welt gesprochen, doch sie sagen alle dasselbe: Was geschah, ist beispiellos. Ein Ereignis, bei dem ein neun Monate altes Baby, Kinder, Männer und Frauen, alte und kranke Menschen unter unmenschlichen Bedingungen im Untergrund ohne einen Sonnenstrahl oder Verbindung zur Außenwelt seit sieben Wochen festgehalten werden, gab es noch nie.«

Die sechs Krankenhäuser, Scheba, Tel Haschomer; Soroka, Assaf Harofeh, Wolfson, Ichilov und das Schneider Kinderhospital, wurden nicht zufällig ausgewählt. Scheba, Tel Haschomer und Soroka verfügen über große Traumazentren und werden Geiseln mit schweren Verletzungen behandeln. Schneider wird sich auf Kinder konzentrieren, die körperliche und psychische Betreuung benötigen.

Wolfson verfügt über eine Akutstation zur Behandlung von Opfern sexueller Übergriffe. Um bei ihnen Vertrauen herzustellen, sollen vor allem Ärztinnen und Psychologinnen eingesetzt werden.

»Es ist praktisch Neuland weltweit. Auch für Experten.«

professor hagai levine

»Äußerst wichtig sind die interdisziplinäre Zusammenarbeit und ein holistischer Ansatz, der die Patienten und auch die Angehörigen, die ebenfalls traumatisiert sind, in den Mittelpunkt stellen.« Es gebe so viele Tragödien und grauenvolle Schicksale, weiß Levine und nennt die dreijährige Avigail als Beispiel: »Ihre Eltern wurden vor ihren Augen ermordet, sie floh zu den Nachbarn und wurde dort mit der gesamten Familie von Hamas-Terroristen entführt.«

Das Sozialministerium stellt 60 Experten ab, die auf die Behandlung von Traumata bei Kindern spezialisiert sind. Jeder Geisel und ihrer Familie wird ein Sozialarbeiter zugewiesen, der sich um ihre Bedürfnisse kümmert und die Verbindung zu anderen professionellen Helfern herstellt.

Doch zunächst müssen die Geiseln freikommen. Und auch das sei Levine zufolge ein komplexer Prozess. »Sie werden wahrscheinlich von einem Hamas-Mann zu einem anderen gebracht, danach an das Rote Kreuz und schließlich zu israelischen Soldaten, denn Gaza ist ein Kriegsgebiet. Vielleicht gibt es weitere Mittelsmänner. Wir wissen es nicht.«

Auch die Soldaten der israelischen Armee werden derzeit eingewiesen, wie sie sich bei dem Empfang der Geiseln zu verhalten haben. In dem Dokument des Gesundheitsministeriums heißt es unter anderem, dass jede der Freigelassenen mit Namen angesprochen, aber dass niemand ohne Erlaubnis berührt werden soll. Die Soldaten könnten vorschlagen, ein Kind zu umarmen oder an der Hand zu halten, aber sollen es nicht ohne seine Zustimmung tun.

Die Menschen müssen Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnen

Levine erklärt: »Die Menschen hatten keine Wahl, als sie in Gefangenschaft waren und durften nichts selbst entscheiden. Jetzt müssen sie die Kontrolle über ihr Leben zurückgewinnen. Und das beginnt bei den kleinsten Dingen. Unsere Devise bei der Betreuung lautet: professionell, persönlich und geduldig«. Dazu gehöre die Beachtung vermeintlich kleiner Details, etwa der Vorbereitung von Kleidung und persönlichen Gegenständen für die Kinder. Allerdings ist das nicht immer möglich, da in einigen Fällen ihre Häuser mit sämtlichem Besitz von den Terroristen zerstört wurden.

»Ich bin mir sicher, dass alle dabei helfen wollen, auch die anderen Geiseln zu befreien.«

Noch ist unklar, wie die Armee und der Inlandsgeheimdienst eventuelle Befragungen durchführen wird, um Anhaltspunkte über den Zustand oder Aufenthaltsort der anderen Geiseln, die noch in Gaza gefangen sind, zu erhalten. Levine ist überzeugt, dass dies unter professioneller Aufsicht und mit der größtmöglichen Vorsicht geschehen wird. »Aber ich bin mir sicher, dass alle dabei helfen wollen, auch die anderen Geiseln zu befreien.« Er habe auch persönlich mit den Freigelassenen, insgesamt fünf Frauen, gesprochen, um zu verstehen, wie man dabei am besten vorgehe.

An erster Stelle aber stünde klar die medizinische Behandlung, denn mindestens ein Drittel der Gekidnappten leidet unter chronischen Krankheiten und brauche dringend Medikamente. Über das Forum der Familien haben die Mediziner Informationen über die Gesundheitsbedürfnisse jeder einzelnen Person zusammengestellt. Unter ihnen gibt es Menschen mit schwerem Asthma und Allergien, Diabetes, Krebs, eine 85-Jährige, die an Parkinson und Demenz leidet. »Außerdem wissen wir nicht, ob jemand schwer verwundet ist, durch Schusswunden oder Amputationen«, gibt Professor Levine zu bedenken. »Wurden sie behandelt? Gibt es schwerwiegende Komplikationen? Wir hoffen auf das Beste, aber erwarten das Schlimmste.«

Mediziner gehen davon aus, dass Geiseln unterernährt sind

Außerdem gehen die israelischen Mediziner davon aus, dass die Geiseln unterernährt sind. »Sie haben ganz sicher keine ausreichende oder ausgewogenen Ernährung erhalten. Auch dadurch kann es große gesundheitliche Probleme geben.« So sehr man die Aufmerksamkeit auf die Befreiten lenken werde und müsse, so habe man doch ständig im Hinterkopf, »dass sich noch viele weitere Geiseln im Gazastreifen befinden, die bislang unseres Wissens nach keinerlei Medikamente oder ärztliche Versorgung erhielten«.

Levine hofft, dass das Internationale Rote Kreuz, so wie in der Vereinbarung zwischen Israel und der Hamas beschlossen, sie tatsächlich sehen und sich um sie kümmern darf. »Unsere Herzen sind bei ihnen, und wir geben nicht auf, bis jede und jeder einzelne von ihnen wieder zu Hause ist.«

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