Jerusalem

Vereinigt und geteilt

Die Skyline wirkt himmlisch, die Sorgen sind irdisch. Foto: Flash 90

Sie ist die Ewige, die Goldene, die Heilige. Gern bemühen Politiker und bedeutende Leute große Worte für die Hauptstadt Israels. Zum 50. Jahrestag des Sechstagekrieges vom Juni 1967 beschwören die Politiker die Vereinigung der Stadt. An magischem Flair und Lobpreisungen mangelt es dem urbanen Schmelztiegel wahrlich nicht. Dafür aber oft an Einheit im alltäglichen Leben.

Ein halbes Jahrhundert, nachdem die israelischen Streitkräfte den östlichen Teil einnahmen und mit dem westlichen zusammenfügten, beschreibt Bürgermeister Nir Barkat seine Stadt so: »Am 50. Geburtstag der Wiedervereinigung ist Jerusalem eine blühende Stadt, die in den Bereichen Bildung, Hightech, Kultur, Wirtschaft und allen anderen Lebensbereichen gedeiht. Viele Initiativen werden das Gesicht der Stadt ändern. Wir werden auch 2017 weiter investieren.«

Es ist unumstritten, dass Jerusalem, die größte Stadt Israels, am meisten Schlagzeilen macht. Keine Frage außerdem, dass Jerusalem viel Postives aufweisen kann. Das Jerusalem Institute for Policy Research veröffentlichte jüngst Zahlen: 28 Prozent mehr Arbeitsplätze im Hightech-Sektor in den vergangenen zwei Jahren, 78 Prozent aller Touristen aus dem Ausland besuchen Jerusalem, und mehr als die Hälfte (51 Prozent) bleiben über Nacht. Es gibt ein Dutzend Museen, von denen einige als Weltklasse gelten, und sieben Schulen der Künste. Die Stadtverwaltung unterstützt allein 60 kulturelle Einrichtungen.

Wachstum Doch es gibt auch große Herausforderungen. Im Juni 1967 vergrößterte sich die Fläche der Stadt auf einen Schlag. Am 5. Juni betrug sie kurz vor Kriegsausbruch 38,1 Quadratkilometer, sechs Tage darauf 108. Bis heute wächst sie weiter. Mittlerweile umfassen die Stadtgrenzen eine Fläche von 125,1 Quadratkilometern. Und gleichzeitig wuchs die Bevölkerungszahl dieser heterogenen Metropole.

Das Zentrale Statistikbüro (CBS) beschreibt in seinem neuesten Bericht die soziale und wirtschaftliche Realität in Jerusalem in harten Zahlen. Während nach dem Ende des Krieges 266.000 Menschen in der Stadt lebten, sind es heute rund 880.000. 18.100 Bewohner kehrten Jerusalem 2015 den Rücken, nur 10.300 schlugen ihre Zelte hier auf. Jedes Jahr ziehen rund 8000 Menschen weniger in die Stadt. Es sind vor allem junge säkulare Israelis, die wegen der zunehmend strengreligiösen Atmosphäre, der hohen Lebenshaltungskosten und dem Mangel an Jobs ihre Koffer packen.

Mehr noch aber ist es die Zusammensetzung der Bewohner – und damit die Frage, wer in der Mehrheit ist –, die mit Argusaugen betrachtet wird. Zweifellos wächst der arabische Anteil wesentlich rasanter. In den fünf Jahrzehnten stieg die Zahl der Juden um 174 Prozent an, die der Araber um mehr als das Doppelte (372 Prozent). Während der jüdische Anteil 1967 noch 74 Prozent betrug, sind es heute nur noch 63 Prozent. Mehr als ein Drittel sind Araber.

»Meist leben die Städter natürlich ein ganz normales urbanes Leben«, beschreibt Yoseph Zeira, Wirtschaftswissenschaftler an der Hebräischen Universität, die Lage. »Doch Jerusalem ist eine arme Stadt. Zwar gibt es öffentliche Einrichtungen wie Regierung und Hochschulen, doch kaum Industrie und wenig Handel. Darüber hinaus ist es eine ethnisch und wirtschaftlich geteilte Stadt. Es ist eindeutig, dass der westliche Teil reich und der östliche viel ärmer ist.« Das bestreitet auch Bürgermeister Barkat nicht. Allerdings meint er, es liege am Mangel von Geldmitteln und bürokratischen Hindernissen, die bis in die Zeit jordanischer Herrschaft zurückgehen, nicht an der Verteilung. »Es ist keine Politik«, macht er klar, »sondern schlechtes Management. Doch wir holen auf.«

Wie durch eine Lupe betrachtet werden die Unterschiede deutlich, wenn man sich in die Straßenbahn setzt. Der Light Rail fährt durch charedische Gegenden, in denen dunkle Anzüge und Hüte das Straßenbild bestimmten, durch die arabischen Viertel, entlang der spektakulären Altstadt mit ihren mächtigen Mauern bis in das hypermoderne Geschäftsviertel des Zentrums.

Armut Von den jüdischen Einwohnern bezeichnen sich 21 Prozent als säkular, 24 Prozent als traditionell, 19 Prozent als religiös und 35 Prozent als ultra-orthodox. Die letzte Gruppe gehört zu den ärmsten – und gleichzeitig zu den am stärksten wachsenden. Insgesamt leben rund 45 Prozent aller Jerusalemer unterhalb der Armutsgrenze. Im Landesdurchschnitt sind es ledglich 20 Prozent.

Auch in Sachen Sicherheit schneidet Jerusalem nicht allzu gut ab. 2015 sagten zwar 71 Prozent aller über 20-Jährigen, sie fühlten sich beim Gang durch die Straßen ihrer Stadt sicher, doch im Vergleich zu den anderen Großstädten des Landes liegt diese Zahl zehn Prozent unter dem Durchschnitt. Professor Zeira: »Die Stimmung ist seit dem Sechstagekrieg explosiver geworden. In den ersten 20 Jahren hatten die Palästinenser noch die Hoffnung, dass die arabischen Staaten zu Hilfe kommen, und hielten still. Als dies jedoch ausblieb, nahmen sie ihr Schicksal in die eigene Hand, die erste Intifada brach 1987 aus, es folgte 2000 die nächste.« Besonders hart getroffen von Terroranschlägen war Jerusalem.

Anders als in anderen Gegenden Israels träten hier die Probleme des Landes gebündelt auf, erklärt der Experte. »Der Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern liegt direkt vor der Haustür, die Gegensätze zwischen Säkularen und Frommen, auch der Konflikt zwischen Aschkenasim und Sefarden ist hier extremer als in anderen Städten zu spüren. Viele Probleme, die anderswo am Rande erscheinen, brennen in Jerusalem regelrecht.«

Dennoch gibt das Statistikbüro auch diese Zahlen bekannt: 92 Prozent aller Jerusalemer sind zufrieden mit ihrem Leben (93 Prozent der jüdischen Bevölkerung und 89 Prozent der arabischen). Im Landesdurchschnitt sind es nur 88 Prozent. Trotz der Probleme scheint es, als versprühte die Heilige Stadt noch jede Menge Magie.

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