Geiseln

Tränen, immer wieder Tränen

Auf dem Foto schauen beide direkt in die Kamera. Mit Brillen auf der Nase, einem sanften Lächeln im Gesicht. Und ohne Haare. Es sind Karina Engelbert und Ronen Engel. Aufgenommen wurde das Bild vor zwei Jahren, Karina war an Brustkrebs erkrankt, hatte Chemotherapie, ihr fielen die Haare aus. Da rasierte sich auch ihr Mann den Kopf. »Aus Solidarität, aus Liebe«, sagt Diego Engelbert und schluckt. »So ist er halt.«

Tränen rinnen unter seinem schwarzen Brillenrand hervor. Karina (51), Ronen (54) und ihre beiden Töchter, Mika (18) und die elfjährige Yuval, sind jetzt im Gazastreifen, verschleppt von der Terrororganisation Hamas.

Viele Bewohner des Südens leiden an einer Posttraumatischen Belastungsstörung.

Diego Engelbert ist Karinas jüngerer Bruder. Seit dem 7. Oktober, dem dunkelsten Tag in seinem Leben, hat er nur noch einen Wunsch, und zwar, dass seine Familienangehörigen heil nach Hause kommen. An dem Morgen hatte er noch mit Karina telefoniert. »Die Raketen flogen, und wir bestätigten uns gegenseitig, dass wir okay sind. Dann, um 9.31 Uhr, rief ich wieder an. Doch nichts mehr. Gar nichts.« Seit diesem Moment hat er kein Lebenszeichen von seiner Familie bekommen. »Nichts zu hören, ist ein gutes Zeichen, denke ich immer wieder.«

Er sitzt in einem Café in Kfar Saba, einem Vorort von Tel Aviv, und trägt ein schwarzes T-Shirt, auf das ein Aufruf zur Freilassung der Geiseln gedruckt ist. Etwas anderes zieht er nicht mehr an. An seiner Seite eine Freundin, Yaelli Zaidman, die ihm hilft, die Geschichte seiner Angehörigen an die Öffentlichkeit zu bringen.

Und da ist noch ein schwarzer Labrador. »Muffin«, sagt er sanft und versucht, das Tier zu beruhigen. Als ein Motorrad mit lautem Dröhnen vorbeidüst, reißt der Hund an der Leine. »Auch er ist posttraumatisch. Wie so viele Bewohner aus den Gemeinden in der Nähe des Gazastreifens«, erklärt Diego.

Der andauernde Beschuss mit Raketen hinterlässt Spuren

Eine Posttraumatische Belastungsstörung ist auch seiner Nichte Mika diagnostiziert worden. Der andauernde Beschuss mit Raketen im Süden Israels hinterlässt seine Spuren. Nach dem Abitur begann sie ein soziales Jahr und arbeitete mit autistischen Kindern in Kfar Saba. Onkel Diego, von Beruf Kindergärtner, war begeistert. »Ich wollte, dass Miki hier endlich etwas zur Ruhe kommen kann.« »Aber jetzt ist sie nicht mehr da«, flüstert er fast, als seine Stimme bricht.

Nur Muffin, der Hund, war noch in dem Haus der Familie im Kibbuz Nir Oz, als die israelischen Soldaten endlich kamen. Von der Familie, die sich in ihrem Sicherheitsraum verschanzt hatte, fehlte jede Spur. Mittlerweile sind die vier von der Regierung in Jerusalem als Geiseln bestätigt, zusammen mit 218 anderen Menschen – Babys, Kleinkinder, Teenager, Frauen und Männer. Israelis und ausländische Staatsangehörige.

Die Familie Engelbert wanderte 1989 aus Argentinien nach Israel ein. Die Eltern und vier Kinder ließen sich in der südlichen Stadt Beer Sheva nieder. Karina, die Älteste, Paula, Diego und Romina gingen zur Schule, in die Armee und gründeten ihre eigenen Familien. Bis auf Diego leben sie noch immer in den südlichen Gemeinden des Landes. »Karina und Ronen lernten sich auf dem Hundespielplatz kennen. Engelbert und Engel, das passte. Sie verliebten sich, bekamen drei Kinder und zogen in den Kibbuz.« Tom, ihr 21-jähriger Sohn, ist Soldat.

»Sie reisen ständig herum, sind sehr naturverbunden und einfach diese coole, etwas verrückte Familie.« Einen Schabbat vorher war Diego bei ihnen zu Besuch. »Yuval hatte so viele Pläne, sie wollte ihr Zimmer umgestalten und ihre eigenen Klamotten nähen. Sie liebt die Freiheit im Kibbuz.«

Karina habe immer gesagt, wo sie leben, sei es zu 90 Prozent wie im Himmel und zu zehn Prozent wie in der Hölle durch die wiederkehrenden Raketen der Hamas. Diego stockt. »Jetzt ist es nur noch die Hölle.« Ein Post in den sozialen Medien zeigt ein grünes Ortsschild des Kibbuz. Darauf steht: »Bevölkerung 07.10.2023: 450, Bevölkerung 08.10.2023: 190.«

Die älteste Schwester ist Diegos Heldin. »Sie ist meine beste Freundin, immer für mich da, in allen Phasen meines Lebens, wir reden ständig. Sie ist so klar und aufgeräumt, weiß immer, wo es langgeht. Bei ihr kommen unsere deutschen Wurzeln eindeutig durch.« Mit dieser Eigenschaft habe Karina den Krebs besiegt. »Mit vielen Sorgen und Schmerzen, aber sie hat es geschafft. Doch sie braucht noch immer Medikamente, und die hat sie nicht. Da, wo sie jetzt ist …« Er schluckt, Tränen, immer wieder Tränen.

In die Trauer mischt sich Wut

In die Trauer mischt sich Wut. »Ich bin wütend, dass die ganze Welt über humanitäre Hilfe für den Gazastreifen spricht. Und niemand nach humanitärer Hilfe für die Geiseln ruft. Alle drängen Israel, Lieferungen nach Gaza durchzulassen. Wer drängt die Hamas? Wo ist das Rote Kreuz?«, fragt er aufgebracht. »Karina braucht ihre Medikamente. Mika braucht ihre Medizin. Sie ist ein Mädchen, gerade einmal 18.« Nach der Wut komme immer die Verzweiflung, sagt er kaum vernehmbar, als seine Schultern heruntersacken.

Die Freundin Yaelli erklärt: »Mehr als zweieinhalb Wochen sind vergangen, und das Rote Kreuz hat die entführten Menschen nicht einmal gesehen. Währenddessen sind Trucks voller humanitärer Hilfe in Gaza angekommen. Alle reden über Verhältnismäßigkeit. Wo ist die Verhältnismäßigkeit für unsere Geiseln?« Die israelische Regierung müsse endlich aufhören zu reden und etwas tun. »Die Welt muss etwas tun. Alle müssen endlich aufwachen!«

Wenn Diego bei der Arbeit ist, »spiele ich mit den Kindern, mache Quatsch. Es ist surreal, aber das ist mein Leben im Moment. Dann, auf dem Weg nach Hause, lasse ich meinen Gefühlen freien Lauf«. Diego und seine Frau Revital haben drei Kinder, Lotem, Peleg und die jüngste Tochter Dolev, sechs Jahre. »Sie fragt, wo ihre Cousinen sind, wo ist Tante Karina?« Zu Hause versuchten Revital und er, nicht zusammenzubrechen und den Alltag, so gut es geht, zu bewältigen. »Wir weinen, wenn wir in der Küche stehen und den Abwasch machen. Dann sehen die Kinder unsere Gesichter nicht.«

»Es ist surreal, aber das ist mein Leben im Moment.«

Diego Engelbert

Doch es gebe auch Lichtblicke in den düsteren Tagen. »Hilfe kommt von allen Seiten«, sagt er und lächelt ein wenig. »So viele gute Menschen kümmern sich, bringen Essen, sind für uns da. Fremde, die ich noch nie gesehen habe, kommen auf mich zu und nehmen mich in den Arm.«

Während Diego erzählt, versucht Muffin, im Licht der Straßenlaterne seinen eigenen Schatten zu fangen. Diego und Yaelli schmunzeln ein wenig und streicheln ihm über den Rücken. An einer Seite fehlt das Fell, eine frische Naht ist zu sehen. Muffin, der im Sicherheitsraum der Familie mit einer großen Wunde am Bauch wartete und jaulte, wurde von einem Soldaten gefunden.

Der Hund hat bei dem 45-Jährigen und seiner Familie ein Zuhause gefunden, bis Muffins eigene Familie wiederkommt. Dass das bald geschieht, daran glaubt Die­go ganz fest. Es ist laut in dem kleinen Café, Teenager plaudern, Kinder rennen umher. Diego hat den Ort absichtlich ausgewählt. »Wenn die Stille kommt, kommen die Gedanken. Was passiert mit ihnen? Was müssen sie durchmachen?« Er spricht nicht weiter. Nur noch Schluchzen. »Ich schlafe nicht mehr.«

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