Mit seiner Pressekonferenz am 10. August hat Premierminister Benjamin Netanjahu die nächste Stufe im Gaza-Krieg eingeleitet. Er kündigte an, den Zeitplan für die Einnahme von Gaza-Stadt zu verkürzen. Der größte Ballungsraum des Küstenstreifens gilt als letzter bedeutender Stützpunkt der Hamas, und zwar militärisch, politisch und symbolisch. Israel strebe keine dauerhafte Besatzung an, so Netanjahu weiter, sondern wolle das Gebiet »von Hamas-Kämpfern befreien«. Zivilisten sollten in sichere Zonen evakuiert und dort versorgt werden. Für die Zeit danach schwebe ihm eine entmilitarisierte Zone sowie eine zivile Verwaltung ohne Beteiligung von Hamas oder Palästinensischer Autonomiebehörde vor.
Doch die Entscheidung des Premiers hat eine Welle interner und externer Kritik ausgelöst, die auf gleich mehrere Konfliktlinien zwischen der Regierung, führenden Militärs und der israelischen Öffentlichkeit verweist. Am deutlichsten wurde Bezalel Smotrich: Laut israelischen Medienberichten erklärte der Finanzminister, er habe das »Vertrauen verloren« in die Kriegsführung des Premiers. Die Entscheidung, nach Gaza-Stadt vorzudringen, führe nicht zu einem vollständigen Sieg.
»Ein schwarzes Loch«
»Der Plan zielt darauf ab, Druck auf die Hamas auszuüben und sie zurück an den Verhandlungstisch zu bringen, um erneut ein Teilabkommen anzustreben, das die Hälfte der Geiseln aufgeben und den Krieg beenden würde«, so Smotrich. Das sei nicht mit den Kriegszielen vereinbar, weshalb er den Plan ablehne und sogar damit drohte, im Falle seiner Umsetzung Neuwahlen herbeizuführen.
Auch die Armeeführung steht nicht geschlossen hinter dem Vorhaben. Generalstabschef Eyal Zamir warnte vor verlustreichen Häuserkämpfen. Zudem stellte er das strategische Ziel infrage. Medienberichten zufolge warnte er, dass »die Besetzung des Gazastreifens Israel in ein schwarzes Loch hinabziehen würde«. Man müsse langfristig für zwei Millionen Palästinenser Verantwortung übernehmen. Das Vorhaben würde also massiv Truppen binden und das Leben der Geiseln zusätzlich gefährden – ein Szenario, das niemand in der Armee wolle. Zugleich betonte Zamir aber, dass man die Mission »in bestmöglichster Weise« umsetzen werde.
Die politische Opposition verurteilte die Entscheidung zur Ausweitung des Gaza-Krieges mit scharfen Worten. Yair Lapid, Vorsitzender von Jesch Atid, sprach auf Facebook von einem »historischen Fehler«. Man würde den Zielen der Hamas zuarbeiten, wenn Israel sich auf einen verlustreichen Häuserkampf einlasse, der das Land diplomatisch weiter isolieren und militärisch ausbluten werde. Yair Golan, Chef der Partei Die Demokraten, bezeichnete den Plan als »gefährliches Abenteuer ohne Exit-Strategie«. Auch er warnte davor, dass eine solche Offensive die Lage für die Geiseln dramatisch verschlechtern könne. Lapid und Golan warfen der Regierung vor, den Krieg ohne klare Strategie fortzuführen und die persönlichen politischen Interessen über die Sicherheit des gesamten Landes zu stellen.
Das Vorhaben würde massiv Truppen binden und die Geiseln zusätzlich gefährden.
Noch schärfer fiel die Kritik der Angehörigen der Geiseln aus. Das Forum der Geiselfamilien spricht von einem »Todesurteil für die noch Lebenden«. Die Regierung gehe das Risiko ein, dass die Hamas aus Rache oder Verzweiflung Geiseln töten könnte. Mehrere Angehörige warfen Netanjahu vor, mit dem Plan allein innenpolitische Stärke demonstrieren zu wollen, statt die Freilassung der Verschleppten voranzutreiben.
Als Reaktion rief das Forum zu einem landesweiten Streik am Sonntag auf. Man wolle so gegen die geplante Ausweitung des Gaza-Krieges protestieren. Geschäfte, Unternehmen und Behörden sollen den Betrieb einstellen, um den politischen Druck auf die Regierung zu erhöhen und den Fokus auf eine diplomatische Lösung in der Geiselfrage zu lenken. Die Mehrheit der Opposition, darunter auch Lapid und Golan, plant, den Streik zu unterstützen, ebenso Teile der Privatwirtschaft.
Es liege »weitgehend an Israel«
Auch mehrere westliche Regierungen haben vor einer Ausweitung des Krieges gewarnt. Der britische Premierminister Keir Starmer erklärte, eine solche Entscheidung sei falsch. Es dürfe nicht zu einer Eskalation kommen, die weder zur Befreiung der Geiseln beitrage noch den Konflikt beende. Frankreichs Präsident Emmanuel Macron warnte ebenfalls davor, dass Netanjahus Plan Israel in einen endlosen Krieg treiben werde.
Anders dagegen US-Präsident Donald Trump. Er hatte bereits zuvor erklärt, es liege »weitgehend an Israel«, ob man den Gazastreifen vollständig besetzen wolle. Auf die Frage, ob Washington Netanjahu damit »grünes Licht« gebe, gab es jedoch keine eindeutige Antwort.
Wann die Militäroperation beginnen soll, ist derzeit noch offen. Netanjahu selbst spricht von einer beschleunigten Umsetzung. Aus Armeekreisen ist jedoch zu hören, dass die Planungs- und Operationsabteilungen der israelischen Armee (IDF) dafür noch Zeit benötigen. Die Rede ist von mehreren Wochen, die man für die Vorbereitung brauche. Dazu würden unter anderem die Evakuierung von Zivilisten aus den vorgesehenen Kampfzonen gehören, die Einrichtung und Sicherung logistischer Nachschublinien sowie die Koordinierung mehrerer Divisionen im Falle eines Vormarsches in dem dicht bebauten Gebiet von Gaza-Stadt.
Ob es denn auch wirklich zu einem groß angelegten militärischen Einsatz kommt oder es sich nur um den Aufbau einer Drohkulisse handelt, um Druck auf die Hamas auszuüben, werden die weiteren Verhandlungen um die Freilassung der Geiseln zeigen. Entscheidend wird sein, ob es Netanjahu gelingt, die Differenzen innerhalb der Koalition und mit der Militärführung auszuräumen.