Trauma

»Stellen Sie es sich vor – nur eine Minute lang«

»Sie hat dieses ansteckende Lachen«: Yarden Gonen (r.) über ihre Schwester Romi Foto: privat

Trauma

»Stellen Sie es sich vor – nur eine Minute lang«

Romi Gonen ist seit sechs Monaten in der Gewalt der Hamas. Ihre Schwester Yarden spricht über ihren Schmerz

von Sabine Brandes  05.04.2024 07:43 Uhr

Frau Gonen, wann haben Sie das letzte Mal von Ihrer Schwester Romi gehört?
Es war vor mehr als 120 Tagen, und ich erinnere mich, als ob es gestern war. Ich vergleiche diesen Tag mit der »Tragödie Israels«, die wir jedes Jahr beim Übergang zwischen dem Gedenktag Jom Hasikaron und dem Freudentag Jom Haazmaut durchleben. Der Deal zwischen Hamas und Israel war geplatzt, und wir erfuhren, dass es keine weitere Liste geben würde. Außerdem hatte man den Leichnam von Ophir Tsarfati gefunden, der mit Romi im Auto saß, als die Hamas den Wagen attackierte. Nach Ophirs Beerdigung waren wir am Boden zerstört. Dann bekamen wir plötzlich einen Anruf. Eine freigelassene Geisel erzählte, dass sie in Gaza mit Romi zusammen war. Meine Schwester lebt! Es war die schönste Nachricht der Welt.

Was für ein Mensch ist Ihre Schwester?
Romi ist 23 Jahre alt und das Sandwichkind von uns fünf Geschwistern. Wir sind im Norden aufgewachsen, inmitten von arabischen Ortschaften, und nehmen die Koexistenz in Israel sehr wichtig. Romi liebt es zu reisen, andere Kulturen kennenzulernen und zu tanzen. Jeden Sonntag veranstalten wir für sie eine Tanzstunde auf dem Platz der Geiseln. Wo auch immer Romi ist, lernt sie neue Leute kennen, denn sie hat dieses ansteckende Lachen, ist witzig, und man mag sie einfach. Aber sie hat auch ein kämpferisches Naturell und tut alles, um Gerechtigkeit für sich selbst und andere zu erreichen. Romi ist nicht nur ein Gesicht auf einem Vermissten-Poster, sie ist meine geliebte kleine Schwester.

Romi ist verletzt, ihr wurde in den Arm geschossen. Haben Sie jemals von offizieller Seite gehört, ob sie Medikamente erhielt?
Ehemalige Geiseln, die mit Romi zusammen waren, sagten, dass ihr Arm nicht in Ordnung sei und sie eine Infektion habe. Das ist mehr als vier Monate her. Seitdem haben wir nichts mehr gehört. Neben ihrer Verletzung hat sie einige chronische Erkrankungen, für die sie Medikamente braucht. Ich glaube nicht, dass sie jemals Medizin erhalten hat.

Vor einigen Tagen berichtete die ehemalige Geisel Amit Soussana als Erste über ihre persönlichen Erfahrungen mit sexueller Gewalt durch Terroristen. Bestätigt das Ihre schlimmsten Befürchtungen?
Natürlich! Wir wussten, dass es am 7. Oktober sexualisierte Gewalt gab, auch von ehemaligen Geiseln, die über andere Opfer erzählten. Ich bin eine Frau, manchmal habe sogar ich Angst, nachts durch meine Stadt zu laufen. Doch ich kann um Hilfe rufen. Romi und die anderen aber … Oh, mein Gott! Die Terroristen können mit ihnen tun, was immer sie wollen. Meine Schwester kann niemanden anrufen, sich nicht wehren, wenn sie überleben will. Sie hat keine eigene Identität mehr, ist ein Nichts für die Terroristen. Dieser Horrorfilm läuft seit dem ersten Tag permanent in meinem Kopf. Ich danke Amit Soussana, die so mutig ist und ihre Geschichte nur deshalb erzählt hat, um den 19 Frauen und den Männern zu helfen, die noch immer in der Gewalt der Hamas sind.

Wie empfinden Sie die Reaktionen aus aller Welt auf die vielen Beweise des sexuellen Missbrauchs der Geiseln?
Wie nur konnte uns die Welt in die Situation bringen, dass Amit Soussana, diese verletzliche und sanfte Person, über ihr persönliches Leid berichten musste, damit man uns glaubt? Wir wurden von der internationalen Gemeinschaft und den Frauenorganisationen, die eigentlich an unserer Seite hätten stehen sollen, verraten. Nur sehr wenige haben sich geäußert, für mich ist es die schlimmste Heuchelei. Denn sich nicht gegen solche Gräueltaten auszusprechen, ist so, als ob sie sagen: »Was Hamas getan hat, ist in Ordnung.« Das bricht mir das Herz. Mehr noch – es ekelt mich an. Denn es geht nicht darum, dass sich jemand für Israel ausspricht, sondern um die grundlegendsten Dinge: Menschen- und Frauenrechte.

Die weiblichen Geiseln leben in permanenter Bedrohung, sexuell missbraucht, vergewaltigt und sogar schwanger von Terroristen zu werden. Wie gehen Sie mit diesen Gedanken um?
Diese Gedanken sind so unbeschreiblich grausam, kein Mensch will sich vorstellen, dass das tatsächlich geschieht. Doch ich bitte Sie: Stellen Sie es sich vor – nur eine Minute lang! Stellen Sie sich vor, dass Sie nur wissen, einer Ihrer Liebsten ist in tödlicher Gefahr. Dann hören Sie nichts mehr. Wird er in einem Käfig gehalten? Wird er geschlagen? Die Gedanken rennen. Eine Stunde vergeht, und Sie hören nichts. Dann ein Tag, zwei Wochen, Monate … Diese Ungewissheit kann einen in den Wahnsinn treiben. Ich befinde mich genau in dieser Situation. Ich kann meiner kleinen Schwester nicht helfen – seit einem halben Jahr.

Wie empfinden Sie die Rufe vieler Menschen nach einem Waffenstillstand?
Oh, es ist so einfach, laut nach einem Waffenstillstand zu brüllen. Und auch ich bin dafür! Aber man darf nicht nur danach rufen. Hamas ist eine Terrororganisation – sie will, dass der radikale Islam die ganze Welt regiert und würde die Geiseln niemals freiwillig nach Hause lassen. Wenn jemand also einen Waffenstillstand in Gaza fordert, muss er auch die Freilassung aller Geiseln fordern. Denn so sehr die palästinensischen Zivilisten unschuldig sind, so sehr sind es die Geiseln. Alles andere ist scheinheilig! Es geht hier nicht um Kriegsgefangene, meine Schwester ist eine junge Frau, die zu einem Musikfestival ging, um zu tanzen. Aber wir können nicht mehr allein schreien, wir brauchen die Hilfe der internationalen Gemeinschaft, um sie zu befreien. Denn es ist nicht nur unser Kampf. Es ist der Kampf der freien Welt gegen den Terror, der nicht zulassen will, dass Menschen irgendwo in Freiheit leben.

Mit der Schwester von Romi Gonen sprach Sabine Brandes.

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