Terror

Schutzräume und Partymeile

Würde Yuval Attias noch ein paar Stationen mit der Bahn weiterfahren, wäre er in Sderot. Doch der junge Mann will da gar nicht hin. »Ich bin doch schon tot«, sagt er und grinst mit blutverschmiertem Mund im leichenblassen Gesicht. Makabre Witze sind am Abend vor Purim Pflicht in Tel Aviv. Während als Untote verkleidete Gestalten in der »Nacht der Zombies« die Bewohner des Zentrums mit Theaterschminke und Pappmaschee das Gruseln lehren, ist die tödliche Bedrohung in der Kleinstadt am Rande der Negevwüste echt.

Mit der neuen Zugverbindung zwischen dem Zentrum und dem Süden des Landes, die im Dezember 2013 feierlich eröffnet wurde, liegt Sderot näher denn je. Die Realität der beiden Städte aber könnte kaum unterschiedlicher sein. Während in Tel Aviv die jungen Leute auf den Purimpartys feiern, als gäbe es kein Morgen, müssen die Menschen in Sderot und den an Gaza angrenzenden Gemeinden wieder in die Bunker rennen.

Mitte vergangener Woche erlebte die Region die heftigste Gewaltwelle seit dem Ende der Gazaoffensive im November 2012. Innerhalb von zwei Tagen flogen rund 100 Geschosse aus dem Palästinensergebiet über die Grenze auf israelischen Boden. Während die Bewohner schon lange nicht mehr mitzählen, offenbaren die offiziellen Zahlen des nationalen Statistikamtes eine grausame Realität: Seit 2001 sind mehr als 8600 Raketen, Granaten und Bomben allein auf Sderot abgefeuert worden, die Stadt, deren Grenze weniger als einen Kilometer vom Gazastreifen entfernt ist.

Schlaglöcher Auf dem Weg in Richtung Süden hat der Winterregen seine Spuren hinterlassen. Die Felder und Wiesen strahlen im satten Rot der Anemonenblüten mit der Mittagssonne um die Wette. Es ist diese Zeit, die der Gegend ihren Namen »HaDarom haAdom« (Der Rote Süden) bescherte. Leider macht viel zu oft ein anderes Rot Schlagzeilen. Das Warnsignal mit Namen »Zewa Adom«.

Im Zentrum von Sderot angekommen, zeigt ein anderer Niederschlag seine Folgen: der des dauerhaften Raketenbeschusses der Hamas und ihrer mörderischen Komplizen. Schlaglöcher in Bürgersteigen und Straßen, verwaiste Spielplätze. Die Bushaltestellen sind gleichzeitig Bunker. Ebenso wie die Betonraupen, die zwar in fröhlichen Farben angemalt sind, doch die traurige Realität kaum verstecken können. 150 Millionen Dollar hat die Regierung in den vergangenen Jahren in die Stadt gesteckt – allesamt in den Ausbau der »Sicherheitsinfrastruktur«, wie es heißt. 150 Millionen für Bunker.

In der 24.000-Seelen-Gemeinde sind gute Jobs rar, die Frustration ist groß. »Wir sind von Gott und der Welt verlassen«, schimpfte der ehemalige Bürgermeister David Buskila, der oft verzweifelt und vergeblich versuchte, die Aufmerksamkeit der Regierung auf seine Stadt zu richten. Vor anderthalb Jahren trat er in den Hungerstreik, um mehr finanzielle Hilfe zu erzwingen.

Der neue erste Mann der Stadt, Alon Davidi, ist leiser, doch nicht minder engagiert. Am vergangenen Freitag verteilte er gemeinsam mit Oberrabbiner David Lau Purimpäckchen. Lau war gekommen, um »die Männer, Frauen und Kinder von Sderot in ihrem schweren Alltag zu unterstützen«. Er gab Süßes an die Kinder und die Soldaten vor den Toren der Stadt aus, die das Abwehrsystem »Eiserne Kuppel« bedienen. »Das ganze Land ist mit euch und betet für euren Frieden«, sagte Lau zu ihnen.

einschläge Als Ronit Cohen vor den Ausgang des Mega-Supermarktes tritt, hält sie einen Moment inne. »Ich muss immer erst schauen, ob die Luft rein ist«, erklärt sie später. »Ich kann gar nicht anders.« Dann hastet sie zu ihrem alten Subaru und verstaut die Tüten im Kofferraum. »Alles muss schnell gehen, es ist keine Zeit zu verlieren. Denn man weiß ja nie ...« Als Cohen später in ihrer Wohnung die Tüten auspackt, füllt sich der Küchentisch mit Knabbereien wie Bisli und Bamba, Marshmallows und Kaubonbons. Im Ofen duften die traditionellen Hamantaschen, gefüllt mit Mohn und Marmelade.

Obwohl heute der letzte Tag von Purim ist, will sie unbedingt noch Mischloach Manot verteilen – jene kleinen Päckchen, die an Purim Freunden und Bekannten gebracht werden. Da die 48-Jährige keinen eigenen Nachwuchs hat, beschenkt sie die Sprösslinge ihrer Schwester und ihrer Nachbarn. »In den letzten Tagen war mir nicht danach. Ich habe ständig die Einschläge gezählt und konnte mich auf nichts konzentrieren. Schon gar nicht wollte ich aus dem Haus gehen. Aber ich werde mir nicht von den Terroristen nehmen lassen, das Lachen der Kinder zu sehen.«

15 Sekunden Cohen würde gern woanders wohnen, das gibt sie zu. »Es wäre eine Lüge, wenn ich sagte, wie wohl ich mich hier fühle. Das tue ich nicht. Ich bin gestresst und habe eigentlich immer Angst, mich draußen aufzuhalten.« Ständig rechne sie aus, wie lange es bis zum nächsten sicheren Ort dauere. Nicht mehr als 15 Sekunden haben die Bewohner Sderots, um sich nach dem Ertönen des Signals in Sicherheit zu bringen. »Die 15 Sekunden sind mein ständiger Begleiter geworden. Sie bestimmen alles.« Gleichzeitig sei Sderot ihr Zuhause, die Stadt, in der sie geboren und aufgewachsen ist. »Meine gesamte Familie lebt hier, ich kann hier nicht weg.«

Sie fügt hinzu: »Trotzdem sehne ich mich danach, auf meinem Balkon zu sitzen, ein Buch zu lesen oder die Augen zu schließen, ohne ständig daran denken zu müssen, dass ich vielleicht sofort wieder rennen muss.« Manchmal habe sie eine Ahnung, dass es gleich knallt, noch bevor das »Zewa Adom« ertönt. »Dabei ist es nicht so, dass ich den siebten Sinn habe. Alle hier ticken so – wir sind einfach auf die Raketen gepolt.«

In Tel Aviv geht derweil die Party weiter. »Die Menschen dort tun mir wirklich leid«, sagt eine junge Frau in weißem Gewand, das über und über mit Blut (in Wahrheit natürlich roter Farbe) bespritzt ist. Gemeinsam streift sie mit einer Gruppe von Freunden an diesem Samstag über den Tel Aviver Rothschild-Boulevard und erschreckt Autofahrer an den Ampeln. »Es muss ganz furchtbar sein, immer mit diesem Bewusstsein zu leben, dass ständig eine Rakete einschlagen könnte.« Ihr Freund stimmt zu: »Ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, wie man so leben kann. Ich würde das nicht aushalten. Schon gar nicht auf Dauer.«

Wohlfühlort Adele Raemer lebt damit auf Dauer. Wie, das zeigt sie in ihrem Haus im Kibbuz Nirim. Die kleine Gemeinde ist weniger als zwei Kilometer von Gaza entfernt. Raemers Sicherheitsraum ist Gästezimmer und gleichzeitig »sicherer Hafen und Wohlfühlort«, den sie sich ganz bewusst behaglich eingerichtet hat.

»Wenn es draußen verrückt ist, will ich mich zumindest drinnen gut fühlen«, hat sie entschieden. Im Fall des »Zewa Adom« kuschelt sie sich in das große Bett mit den weichen Kissen und zieht sich die Decke bis über die Ohren. Kann Adele Raemer für längere Zeit nicht das Haus verlassen, schaltet sie den Fernseher ein und versucht, sich abzulenken.

Raemer, die in New York geboren ist und seit 1979 in Nirim lebt, ist Englischlehrerin. Sie weiß genau, welche Auswirkungen der ständige Raketenbeschuss hat – auf sie selbst und ihre Schüler. »Wir alle können uns viel schlechter konzentrieren. Man ist oft mit den Gedanken woanders als bei dem, was man eigentlich zu tun hat.«

Sogar das Bildungsministerium hat das offiziell anerkannt. Für die Schüler in der betreffenden Region gibt es bei Tests und Arbeiten mehr Zeit als in anderen Gegenden des Landes.

Dauerstress »Natürlich beruhigen sich die Gemüter nach einer Weile wieder«, so die Frau, die auch als medizinischer Clown arbeitet. »Das ist ja klar. In den 16 Monaten der Ruhe hatten wir uns hier wirklich daran gewöhnt, dass nichts geschah.«

Doch die Stresssymptome seien tief ins Unbewusste eingegraben. »Wenn man so oft dieser tödlichen Gefahr ausgesetzt ist, ändert sich etwas. Man wird unruhiger, kann mit lauten Geräuschen schlechter umgehen und ist eigentlich dauergestresst.«

Von »Posttraumatischem Stresssyndrom« könne indes kaum die Rede sein, schließlich gebe es nur selten ein »post«, also ein Danach. »Wir sind ja fast immer mittendrin.« Raemer selbst könne beispielsweise kein Feuerwerk mehr ertragen. »Da ist das schreckliche Geräusch einfach zu nah.«

»Mit der Zuganbindung ist Sderot zu einem Vorort von Tel Aviv geworden«, hatte Premierminister Benjamin Netanjahu bei der Eröffnung des ersten bombensicheren Bahnhofs Israels mit strahlendem Lächeln verkündet. Die Fahrt von der Station Tel Aviv Mitte dauert kaum mehr als eine Stunde.

»Wir wollen nicht hoffen, dass die Stadt samt Raketen eingemeindet wird«, gibt der Zombie im Zug alias Yuval Attias müde noch etwas Galgenhumor zum Besten und gähnt. Sderot ist nicht weit. Und könnte doch kaum ferner sein.

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