Rechtzeitig zu Pessach soll Israel eine neue Regierung erhalten. Quasi als Geschenk an die Bevölkerung nach 16 Monaten des politischen Stillstands.
Das will zumindest Noch- und wahrscheinlich Wieder-Premierminister Benjamin Netanjahu glauben machen. Und natürlich soll er an der Spitze der Koalition stehen. Mithilfe eines unerwarteten Verbündeten: der Corona-Krise.
Kehrtwende Die brachte den eigentlichen politischen Gegner und Herausforderer Benny Gantz von der Zentrumsunion Blau-Weiß dazu, vor einigen Tagen eine völlige Kehrtwende zu vollführen. Zum Entsetzen seiner Partner, die nun keine mehr sind: Yair Lapid mit seiner Partei Jesch Atid und Moshe Yaalon, des einstigen Verteidigungsministers unter Netanjahu und Vorsitzenden von Telem.
Netanjahus einstiger Herausforderer Gantz vollzog eine komplette Kehrtwende.
Gantz hat vor, gemeinsam mit dem Likud eine Einheitsregierung zu bilden, unter Beteiligung der ultraorthodoxen Parteien Schas und Vereinigtes Tora-Judentum. Ob die Rechtspartei Jamina von Naftali Bennett und Ayelet Shaked mit dabei sein wird, ist noch unklar. Auch weiß man nicht, ob Avigdor Liebermans Israel Beiteinu mit in der Regierung sitzen wird.
Dass das Zentrumsbündnis Blau-Weiß dieser nicht komplett beitritt, ist indes klar. Denn es existiert nicht mehr, Lapid und Yaalon hatten unmittelbar nach Bekanntgabe von Gantz’ Entscheidung die Auflösung der Union in der Knesset beantragt.
Mit dem Slogan »Alternative zu Netanjahu« hatte es die Wähler bei den vergangenen drei Wahlen motiviert. Am 2. März hatte die Union aus den drei Mitte-Parteien 33 Mandate erhalten.
PFLICHT Es kam anders: Mithilfe des rechtsreligiösen Blocks wurde Gantz am 27. März neuer Sprecher der Knesset, nachdem Vorgänger Yuli Edelstein ebenso ad hoc nach einer Auseinandersetzung mit dem Obersten Gericht zurückgetreten war.
Der einstige Armeechef Gantz brach damit sein Wahlversprechen, Netanjahu zu entmachten. Er rechtfertigte sich damit, es sei seine nationale Pflicht in dieser Ausnahmesituation, Israel eine Regierung zu geben.
Gantz erklärte: »In Notfallzeiten, in denen Hunderttausende ihr Einkommen in wenigen Tagen verloren haben und Hunderttausende allein zu Hause sitzen, isoliert von ihren Familien, um sich vor dem tödlichen Virus zu schützen; wo Hunderttausende von jungen Familien nicht wissen, wie sie die nächste Rate für ihr Haus zahlen sollen, vertrauen sie auf uns. In dieser Stunde hat niemand das Recht, untätig daneben zu stehen.«
Sowohl Lapid als auch Yaalon hatten kategorisch ausgeschlossen, in einer Koalition mit einem Ministerpräsidenten unter Anklage zu sitzen.
Lapid äußerte seine Enttäuschung in einer Pressekonferenz: »Benny hat entschieden, Blau-Weiß zu zerbrechen und in Bibis Regierung zu kriechen. Das ist völlig unverständlich. Was da gegründet wird, ist keine Einheitsregierung und keine Notfallregierung. Es ist eine weitere Netanjahu-Regierung. Benny Gantz hat ohne Kampf aufgegeben und ist dem Block aus Charedim und Extremisten beigetreten.«
POSTEN Wie Lapid wird auch Yaalon in der Opposition bleiben. Gantz soll nur bis zur Regierungsbildung Knessetsprecher bleiben und dann den Posten des Außenministers übernehmen. 18 Monate später soll er Ministerpräsident werden.
Die ersten eineinhalb Jahre aber will Netanjahu persönlich auf dem Chefsessel sitzen. Und das, obwohl er in drei Fällen wegen Betrug, Vertrauensbruch und Bestechlichkeit angeklagt ist und sich demnächst vor Gericht verantworten muss.
Wegen des Covid-19-Ausbruchs aber ließ der Interims-Justizminister und enge Verbündete von Netanjahu, Amir Ohana, die Arbeit sämtlicher Gerichte außer der des Obersten Gerichts einfrieren und vertagte den Beginn des Prozesses um zwei Monate auf Ende Mai.
Am 6. April soll der Koalitionsvertrag unterzeichnet werden, heißt es.
Davor soll auf jeden Fall ein Koalitionsvertrag unterzeichnet werden – aus Regierungskreisen heißt es, am 6. April und damit kurz vor Beginn von Pessach. Bei Redaktionsschluss war allerdings noch nichts unterschrieben, und die Geister schieden sich offenbar nicht nur an einem Thema.
Streitpunkt Streitpunkt Nummer eins ist die Besetzung des Justizministeriums: Der Likud spricht sich vehement gegen den Blau-Weiß-Parlamentarier Avi Nissenkorn aus und will stattdessen jemanden aus den eigenen Reihen sehen.
Man muss kein Politikexperte sein, um zu verstehen, dass dahinter die juristischen Probleme des Likud-Vorsitzenden Netanjahu höchstpersönlich stehen.
Ebenso ist umstritten, wer Knessetsprecher wird, wenn Gantz ein anderes Amt übernimmt. Der Likud will Edelstein wieder einsetzen, doch das ist für Blau-Weiß bislang nicht akzeptabel. In seiner Antrittsrede beschuldigte Gantz seinen Vorgänger, »dem Obersten Gericht ins Gesicht gespuckt« zu haben.
PLAN Differenzen gibt es zudem über den Gesundheitsminister. Die Zentrumspartei würde gern den ultraorthodoxen Minister Yaakov Litzman durch einen tatsächlichen Experten im Gesundheitswesen austauschen. Litzman jedoch will nicht gehen.
Auch die Zahl der geplanten Minister passt vielen nicht. Bis zu 36 sind nach Medienberichten geplant. Eine exorbitant hohe Anzahl. Andere kleinere Demokratien haben weniger als die Hälfte: beispielsweise Österreich 15 und Holland 16.
Jesch Atid und Telem ließen sich in der Knesset dazu aus: »Die fünfte Netanjahu-Regierung, die vor unseren Augen gebildet wird, ist aufgedunsen, verschwenderisch und korrupt. 36 Minister! Es gibt eine Million Arbeitslose, und man schachert sich gegenseitig Jobs zu. Hunderte Millionen Schekel für Büros und Autos.«
Vernunft Und auch Netanjahus einstiger Herausforderer um den Chefsessel im Likud, der ehemalige Bildungsminister Gideon Saar, ruft zur Vernunft auf: »Obwohl es in Israels Geschichte einige große Regierungen gab, wäre es nicht richtig, das aufgeblasenste Kabinett in diesen Krisenzeiten zu bilden.«
Saar fordert zudem, dass die Gehälter der Minister, Parlamentarier, Richter und hochrangigen Beamten aus Solidarität mit der Bevölkerung gekürzt werden.
Eine komplexe politische Entscheidung verzögert die Koalitionsverhandlungen zudem: die der Annexion von Teilen des Westjordanlandes. Während Netanjahu vor jeder der letzten drei Wahlen angekündigt hatte, er werde dies sofort nach den Wahlen tun – »und zwar unilateral« –, widersetzt sich Blau-Weiß. Zumindest noch.
Denn dass Überzeugungen und Versprechen in der israelischen Politik eine relativ kurze Haltbarkeit haben, das haben die jüngsten Entwicklungen gezeigt.