Der Geduldsfaden ist gerissen: Nach der jüngsten Entscheidung des Corona-Kabinetts in Sachen Bildung lassen Eltern, Schulleiter und Lehrer ihrem Unmut freien Lauf. Sie beschweren sich in den sozialen Netzwerken und bei Demonstrationen auf den Straßen lauthals und kritisieren das Vorhaben auf das Schärfste. Am Montag hatte die Regierung in Jerusalem den Plan zur teilweisen Rückkehr in die Schulen nach dem nationalen Lockdown veröffentlicht.
Einig waren sich die Minister in der Sitzung selten gewesen. Und das Ergebnis sind Maßnahmen, deren Sinn den meisten Israelis verborgen bleibt. Seit dem 18. September befindet sich Israel im Lockdown, der nur langsam aufgehoben werden soll. Statt neun soll es jetzt nur noch sieben oder sogar nur fünf Schritte im Öffnungsplan des Gesundheitsministeriums geben, der zuvor neun Stufen umfasst hatte.
Derweil vermeldet das Gesundheitsministerium die niedrigste Infektionsrate seit vier Monaten. Am Montag wurde bei 2,1 Prozent der mehr als 36.000 durchgeführten Tests das Covid-19-Virus festgestellt. Momentan befinden sich noch 467 Patienten mit einer Covid-Erkrankung in Krankenhäusern, 193 von ihnen werden künstlich beatmet. Das Hadassah-Krankenhaus in Jerusalem erklärte am Wochenanfang, es werde zwei seiner Corona-Abteilungen wegen Mangel an Belegung schließen.
Die partielle Öffnung der Schulen wird ab 1. November umgesetzt.
»KAPSELN« Die partielle Öffnung der Schulen wird ab 1. November umgesetzt. Demzufolge sollen die Klassen eins und zwei in kleinen Gruppen (deren Größe noch nicht bekannt gegeben wurde) in den Klassenräumen lernen. Die sogenannten Kapseln befinden sich an unterschiedlichen Tagen in den Schulgebäuden. Damit würde es maximal an drei Tagen der Woche Unterricht für die sechs- und siebenjährigen Mädchen und Jungen in Israel geben.
Diese Regelung stößt vor allem bei Eltern auf Unverständnis – besonders die Tatsache, dass bei der an den Unterricht anschließenden Nachmittagsbetreuung in denselben Schulen bis zu 28 Kinder für die erste und zweite Klasse erlaubt sind. Die Klassen drei und vier werden ebenfalls in regulärem Umfang in den Schulgebäuden lernen.
Auch Schulleiter können die Entscheidung nicht nachvollziehen. Zumal sie getroffen wurde, nachdem die lokalen Behörden dem Kabinett einen Alternativplan vorgeschlagen hatten, mit dem sie – ohne zusätzliche Kosten – auch die ersten beiden Klassen in die Schulen zurückgebracht hätten. Der Plan wurde vom Finanzministerium unterstützt.
lernplan Die Direktorin einer Grundschule, die ihren Namen nicht nennen möchte, sagte, dass sie in diesem Jahr fast ein Dutzend Mal einen neuen Lernplan aufgestellt hat. »Jetzt ist es genug. Wir warten, bis die Regierung ihre endgültige Regelung mitgeteilt hat. Eine Woche ist im Moment wie ein Jahr. Alles kann sich wieder vollständig ändern.« Auf das Argument, dass die Regierung kein Budget für die ersten beiden Klassen zur Verfügung stellen wolle, reagierte die Schulleiterin mit Kopfschütteln.
Für die Klassen eins und zwei soll es nur an drei Tagen pro Woche Unterricht geben.
»Es ist doch unglaublich, dass alle Kinder vom Babyalter bis zur vierten Klasse voll zur Schule oder in den Kindergarten gehen – nur jene, die es am Dringendsten benötigen, die Erst- und Zweitklässler, nicht«, echauffiert sich die nationale Elternvereinigung. »Eine halbe Woche Schule ist ein lächerlicher Witz und kein vernünftiges Lernen.« Die Vereinigung ruft zu regelmäßigen Demonstrationen unter dem Motto »Verlorene Generation« auf: »Wir kämpfen um die Zukunft unserer Kinder.« Wann die weiteren Klassen von fünf bis zwölf wieder in die Schulen dürfen, ist völlig offen.
Auch Irit Ochman hat die Nase voll. »Ich kann es kaum glauben. Meinen die in der Regierung, wir haben unseren Verstand verloren? Morgens dürfen die Kinder nicht in die Schule, aber nachmittags doch. Hat das Virus dann frei?«, fragt die Mutter von zwei Kindern im Grundschulalter aus Tel Aviv zynisch. Sie hofft jetzt auf Aktionen seitens der Stadtverwaltung.
GELDMANGEL »Das Coronavirus-Kabinett und der Premierminister wissen, dass die lokalen Behörden einen besseren Plan umsetzen können«, ist Haim Bibas, Vorsitzender der Lokalbehörden, überzeugt. »Es ist mir nicht klar, warum die Regierung eine Lösung wählt, die keine ist.« Einige Verwaltungen wollen trotz Regierungsentscheid ihren eigenen Weg gehen. Wie Rischon LeZion. Die Stadt entschied, dass sie die Klassen eins bis vier der Grundschulen öffnet – und zwar vollständig.
Auch Finanzminister Yisrael Katz wollte die Öffnung dieser Klassen während der Debatte in gewöhnlicher Größe erreichen, hatte jedoch keinen Erfolg. »Ich kenne kein Land der Welt, das in ›Kapseln‹ lernt«, so sein Kommentar. Der Grund für die nur teilweise Öffnung sei Geldmangel, hatte Premier Benjamin Netanjahu angegeben. Es müssten für die Klassen eins und zwei mindestens 13.000 neue Lehrer eingestellt werden, und dafür werde es kein zusätzliches Budget geben.
Auch Hochschulen stellen dieser Tage Pläne auf, wie sie ihre Studenten nach Monaten vor den Bildschirmen zurück in die Hörsäle bringen.
»Netanjahu hat gesagt, dass er nicht die Möglichkeit habe, die Kapseln für die ersten und zweiten Klassen zu finanzieren«, sagte Oppositionsführer Yair Lapid im Anschluss. »Die Kinder werden verrückt, die Eltern können nicht arbeiten. Was soll eine Mutter oder ein Vater tun, der zurück in seinen Job muss? Soll er seinem Arbeitgeber sagen: Ich kann nur die Hälfte der Zeit kommen?«
UNIVERSITÄTEN »Wenn Netanjahu kein Geld für die Schulen hat, wie kann er dann eine Regierung mit 36 Ministern finanzieren?«, so Lapid. Und woher habe er das Geld, um sich ein Flugzeug bauen zu lassen, das fast eine Milliarde Schekel kostet? »Wir brauchen dringend eine andere Regierung«, resümierte Lapid. »Eine, die arbeitet und unsere Kinder zurück in die Schulen bringt.«
Auch Hochschulen stellen dieser Tage Pläne auf, wie sie ihre Studenten nach Monaten vor den Bildschirmen zurück in die Hörsäle bringen. Die Hebräische Universität in Jerusalem beispielsweise wird in Zusammenarbeit mit dem benachbarten Hadassah-Krankenhaus einen Schnelltest auf dem Campus für alle Studenten anbieten. Darüber hinaus werden Isolationsmöglichkeiten sowie psychologische und logistische Unterstützung bereitgestellt.
»Die Covid-19-Tests für alle sind Teil der Sorge um die Gesundheit der Studenten«, erklärte der Vizepräsident der Universität, Yishai Fraenkel. »Wir bemühen uns, dass das wirkungsvolle Lernen und Studieren wieder in den Klassenräumen stattfinden kann.«