Politik

Nahöstlicher Realismus

»Zwei Staaten für zwei Völker«: Yair Lapid am 22. September bei der UN-Vollversammmlung in New York Foto: REUTERS

Premierminister Yair Lapid hat eine Botschaft für seine Landsleute und die Welt: »zwei Staaten für zwei Völker«. Bei seiner Rede vor der Generalversammlung der Vereinten Nationen am 22. September – weniger als sechs Wochen vor den Parlamentswahlen am 1. November – überraschte er mit einem Thema, von dem viele meinten, es sei schon lange ad acta gelegt: die Zweistaatenlösung.

»Ein Abkommen mit den Palästinensern, basierend auf zwei Staaten für zwei Völker, ist das Richtige für Israels Sicherheit, Wirtschaft und die Zukunft unserer Kinder«, erklärte der Ministerpräsident und fügte hinzu, dass die einzige Bedingung für die Schaffung eines palästinensischen Staates darin bestehe, dass er »friedlich« sei und nicht zu einer weiteren Terrorbasis werde, von der aus das Wohlergehen und die bloße Existenz Israels bedroht würden.

»Wir können gemeinsam Ihre Zukunft aufbauen, sowohl im Gazastreifen als auch im Westjordanland«, wandte er sich an die Palästinenser. »Legen Sie Ihre Waffen nieder und beweisen Sie, dass die Hamas und der Islamische Dschihad den palästinensischen Staat, den Sie schaffen wollen, nicht übernehmen werden!«

SCHLAGZEILEN Zum ersten Mal seit Jahren machte das Thema damit wieder Schlagzeilen sowohl in Israel als auch weltweit. Wenn es nach der Meinung einiger Experten geht, ist das allerdings nur von kurzer Dauer. Die Professorin Tamar Hermann, Expertin für Außen- und Sicherheitspolitik sowie öffentliche Meinung beim Israel Democracy Institute (IDI), ist sich sicher, dass es schon jetzt, wenige Tage nach Lapids Rede, »nicht mehr relevant« ist. »Tatsache ist, dass sich seit Jahren diesbezüglich nichts getan hat, es nicht einmal erwähnt wurde.«

Hinzu komme, dass die Palästinensische Autonomiebehörde schwächer und die Terrororganisation Hamas stärker werde. »Wer also soll die Regierung in einem Palästinenserstaat stellen? Natürlich die Hamas. Und das wollen die meisten Israelis verständlicherweise auf keinen Fall.«

Doch warum machte Lapid, Vorsitzender der Zentrumspartei Jesch Atid, das Thema dann überhaupt zum zentralen Bestandteil seiner Ansprache?
Hermann ist davon überzeugt, dass sich der Premier an zwei Adressaten gewandt hat: an »die potenziellen Wähler vor der nächsten Stimmabgabe im eigenen Land und an die westliche Welt«. Es sei Kalkül gewesen. »Intern wollte Lapid damit Linkswähler auf seine Seite ziehen und dazu bringen, im November für ihn zu stimmen. An den Westen richtete er sich, um zu zeigen: ›Ich bin der Gute, ich will eine Lösung des Konflikts und Frieden. Ich bin nicht so extrem wie Netanjahu.‹«

unterstützung Dieser hatte 2016 selbst seine Unterstützung für die Zweistaatenlösung zum Ausdruck gebracht – auf derselben Bühne der UN. »Ich habe den Frieden nicht aufgegeben«, sagte Netanjahu damals. Später wandte er sich jedoch zusehends von dieser Idee ab und will heute davon gar nichts mehr wissen. Nach Lapids Auftritt nannte er die Zweistaatenlösung »eine Gefahr für Israel«.

»Bestenfalls gibt es einen Modus Operandi der Gewaltfreiheit.«

Politologin Tamar Hermann

Innerhalb der Acht-Parteien-Regierungskoalition in Jerusalem gab es Kritik von rechtsgerichteten Ministern und Unterstützung aus linken Parteien. Innenministerin Ayelet Shaked von der rechten Partei »Jüdisches Haus« twitterte, dass Lapid »keine öffentliche Legitimität habe, Israel mit Äußerungen zu verwickeln, die dem Land Schaden zufügen«. Umweltministerin Tamar Zandberg von der linken Meretz-Partei findet indes, Israel »soll diesen Prozess anführen und bis er erreicht ist, jeden Stein umdrehen«.

Die Zweistaatenlösung sieht einen unabhängigen palästinensischen Staat neben Israel vor. Theoretisch soll dies Israel Sicherheit verschaffen und es ermöglichen, eine jüdische Bevölkerungsmehrheit zu behalten, während den Palästinensern ein eigener Staat gewährt werden würde. Ein Großteil der westlichen Regierungen und Weltorganisationen hat diese Lösung für den Nahostkonflikt zur offiziellen Politik erklärt, darunter Deutschland, die USA und die Vereinten Nationen.

GRENZEN Neben der bröckelnden Unterstützung in der Bevölkerung gibt es jedoch Probleme, die sich bei Debatten zwischen den beiden Seiten jedes Mal als fast unlösbare Herausforderungen erwiesen haben. Zum einen ist das die Festlegung der Grenzen sowie der Status von Jerusalem, die allgemeine Sicherheit und die Frage der Rückkehr von Palästinensern, die während des Unabhängigkeitskriegs 1948 geflohen sind.

Lapid hatte betont, dass eine große Mehrheit der Israelis die Zweistaatenlösung unterstützt, »ich selbst eingeschlossen«. Doch die »große Mehrheit«, die er beschwor, schrumpft. In einer aktuellen Umfrage sprechen die Zahlen eine deutliche Sprache. In der Untersuchung des Viterbi Family Center for Public Opinion and Policy Research des IDI gaben lediglich 31 Prozent der jüdischen Israelis an, sie würden eine »Zweistaatenlösung als Mittel zum Ende des Konflikts mit den Palästinensern unterstützen«. Im Februar 2021 waren es noch 44 Prozent. Auch die arabischen Israelis scheinen inzwischen weniger zu hoffen. Von 79 Prozent fiel die Zahl der Befürworter auf 60 Prozent.

Ein wesentlicher Faktor dafür seien die Auseinandersetzungen vom Mai 2021 in den arabisch-jüdischen Städten, meint Hermann. »Sie haben eine dramatische Änderung der Einstellung auf beiden Seiten mit sich gebracht. Dabei ist die Hoffnung auf eine Lösung des Konflikts weiter zerschlagen worden.«

vision Lapid habe »Hoffnung und Vision durch Stärke« anbieten wollen, wurde ein Beamter der Regierung vor der Rede zitiert. Man könne mit einer diplomatischen Lösung »an bessere Orte« gelangen. Die Mehrzahl der Israelis allerdings sehe keinen »besseren Ort« mit einem Palästinenserstaat an ihrer Seite, so Hermann. »Es gibt kein Angebot auf dem Tisch, keinen Druck von außen.

Die meisten Israelis meinen, die israelische Armee hat die Sicherheit gut im Griff, und das Leben geht auch so seinen Gang. Viel mehr belastet es sie, wie viel das Leben hierzulande kostet.

Und was ist mit dem Frieden? Die Antwort der Expertin ist eindeutig: «Das ist eine sehr naive Frage. Natürlich wollen alle Menschen Frieden. Doch es kommt auf den Preis an. Für die meisten Israelis ist der Preis, Gebiete abzugeben und einen Palästinenserstaat direkt vor der Haustür zu haben, offenbar zu hoch.» Zudem habe «Frieden» ihrem Verständnis nach derzeit in der Politik keine Bedeutung. «Bestenfalls gibt es einen Modus Operandi der Gewaltfreiheit.»

Aus westlicher Sicht mag es wenig hoffnungsvoll klingen, dass in absehbarer Zeit eine Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts erreicht wird. Aus nahöstlicher Sicht ist es vor allem eines: realistisch.

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