Proteste

Märsche der Schande

Demonstrantin in Tel Aviv Foto: Flash 90

Langsam, aber sicher verlieren viele Israelis die Geduld. Am Samstagabend demonstrierten Zehntausende in Tel Aviv, Jerusalem, Haifa und Rosch Pina gegen Korruption in der Regierung in sogenannten Märschen der Schande. Besonders Premierminister Benjamin Netanjahu wurde aufs Schärfste kritisiert. Doch auch Justizbehörden, die die Untersuchungen gegen Netanjahu angeblich verschleppen, allen voran Staatsanwalt Avichai Mandelblit, waren Ziel der Proteste. Lautstark skandierten die Massen: »Geld – Regierung – Unterwelt!«

»Es gibt nichts, weil wir die Bevölkerung nichts wissen lassen«, hatte ein Demonstrant auf sein Plakat geschrieben, das er vom Treffpunkt an der Unabhängigkeitshalle auf dem Tel Aviver Rothschild-Boulevard bis zum Habima-Theater trug. Guy Niv bezog sich damit zynisch auf Netanjahus Behauptungen, es werde nichts bei den polizeilichen Untersuchungen gegen ihn herauskommen, weil es überhaupt nichts gebe.

»Ein Regierungschef, gegen den in mehreren Fällen ermittelt wird, und jetzt ein Gesetz, das genau diesen schützen soll – meinen die wirklich, wir merken nicht, dass das gewaltig stinkt?« Nach Meinung des Ingenieurs hätten Netanjahu und seine Ergebenen in ihrer Machtgier überzogen und müssten zurücktreten. »Jetzt reicht es uns. Wir fordern, dass die Korruption ein Ende hat.«

Strafverfolgung Das Fass zum Überlaufen brachte ein Gesetzesvorschlag des Parlamentariers David Amsalem (Likud), der in der vergangenen Woche in der ersten Lesung der Knesset bestätigt wurde. Durch das Gesetz soll der amtierende Regierungschef vor Strafverfolgung geschützt werden. Der Polizei soll es unter anderem verboten werden, Empfehlungen für eine Anklage an den Staatsanwalt sowie Informationen und Untersuchungsergebnisse an die Medien weiterzugeben. Die zweite und dritte Lesung des umstrittenen Gesetzes waren ursprünglich für diesen Montag vorgesehen, wurden aber zunächst auf unbestimmte Zeit verschoben.

Einen Tag nach den Protesten gab Netanjahu bekannt, er habe Amsalem beauftragt, den Gesetzestext so zu formulieren, dass er für ihn persönlich nicht gelte. »Sieg der Ehrlichen gegen die Korrupten«, postete Zipi Livni, Vorsitzende der Partei Hatnua, daraufhin. Am selben Tag wurde bekannt, dass gegen den engsten Vertrauten Netanjahus, David Bitan, wegen des Verdachts der Korruption ermittelt wird, als er stellvertretender Bürgermeister von Rischon LeZion war.

Spezialeinheit In den Fällen gegen den Ministerpräsidenten ist die Spezialeinheit Lahav 443 seit Monaten aktiv. Zwei Fälle werden untersucht. In einem geht es um Luxusgeschenke wie Havanna-Zigarren und Rosé-Champagner, die der Premier und seine Familie von reichen Freunden erhalten haben sollen. In dem anderen soll Netanjahu einer Zeitung Vorteile im Gegenzug für eine positive Berichterstattung verschafft haben. Der Premier selbst weist die Gerüchte kategorisch zurück, doch die Beweislast wächst. Sogar Koalitionspartner distanzierten sich in den vergangenen Tagen von dem Gesetzesvorschlag. So ließ Justizministerin Ayelet Shaked wissen, dass der Vorschlag zwar Wert habe, »die Menschen aber keine rechte Regierung gewählt haben, um dieses Gesetz durchzudrücken«.

Die Demonstrationen waren eilig von den Organisatoren Eldad Yaniv und dem einstigen Haushälter der Netanjahus, Meni Naftali, auf die Beine gestellt worden, um die Menschen noch vor der Abstimmung in der Knesset zu mobilisieren. »Wenn wir Tausende auf die Straße bringen, werden einige Parlamentarier vielleicht davonlaufen«, hoffte Yaniv. »Es gibt Parlamentarier mit gesundem Menschenverstand, die nicht für Mafia-Gesetze stimmen, welche die Polizei zum Schweigen bringen und Bibi schützen sollen.« Die Anzahl der Protestierenden – die Organisatoren sprachen im Anschluss von 50.000 landesweit – überraschte sie positiv. »So können wir den Premierminister gemeinsam nach Hause schicken.«

Staatsanwalt Die Proteste vom Samstag waren nicht die ersten, die sich gegen die Korruption der Regierung richten. Seit über einem Jahr bereits finden sich jede Woche Dutzende, manchmal Hunderte von Demonstranten vor dem Haus des Generalstaatsanwalts in Petach Tikwa ein, angeführt von Naftali, der Sara Netanjahu wegen Misshandlung verklagt und den Prozess 2016 gewonnen hatte. Naftali versprach in Tel Aviv: »Ich werde damit nicht aufhören, bis Netanjahu versteht, dass dieses Land nicht sein Eigentum ist und die Regierung abgelöst wird.«

Sogar ein ehemaliger Vertrauter Netanjahus, Sicherheitsberater Uzi Arad, sprach in Tel Aviv. »In einem zivilisierten Land hätte die Regierung eine Einrichtung ins Leben gerufen, die Korruption bekämpft. Stattdessen unternehmen die Behörden das genaue Gegenteil. Das macht uns sehr stutzig«, sagte er. »Die Propheten Israels wussten, wie man das Volk zurechtweist, doch sie wussten auch, wie man mutig einen König tadelt, der einen in die Irre führt.«

Moral »Wir werden von Jerusalem komplett zum Narren gehalten«, schimpfte Ruthi Barkah, die mit ihrer ganzen Familie auf den Rothschild-Boulevard gekommen war, um ihrem Unmut Luft zu machen. »Es ist schier unglaublich, dass diese korrupte Clique uns regiert.« Zugleich meinte sie, dass es bei diesem Protest nicht darum gehe, wer links oder rechts wählt – »sondern um grundlegende Moral und darum, das Richtige zu tun«.

Obwohl sich Oppositionsführer Isaac Herzog nicht persönlich auf den Demonstrationen blicken ließ, sandte er über die sozialen Netzwerke eine Botschaft und rief alle Israelis dazu auf, durch Proteste die Demokratie zu retten: »Die Öffentlichkeit hat ihre Stimme hören lassen, und zwar genau dort, wo unsere Unabhängigkeit ausgerufen wurde. Sie tönt aus allen Bereichen der Bevölkerung, weil sie von der Korruption angeekelt ist und ernsthafte moralische Einwände gegen eine Gesetzgebung hat, die für einen einzigen Mann maßgeschneidert ist.«

Der General Amiram Levin sprach seinen Mitdemonstranten vom Podium aus Mut zu: »Wir werden gewinnen, weil wir alle stolz sind, Israelis zu sein. Wir haben in 70 Jahren eine herausragende Gesellschaft mit großen Errungenschaften in fast jedem Bereich aufgebaut, doch nicht in der Politik. Wir sind verantwortlich, weil wir nicht merkten, dass wir Besseres verdienen. Wir sind es wert, eine gute Führung zu haben, die die Bevölkerung repräsentiert und nicht beschämt.« Unter dem Applaus der Menge warnte der General, an Netanjahu gerichtet: »Es kommt nicht darauf an, wie viele Panzer oder U-Boote man kauft. Bibi, die Geschichte wird dir nicht vergeben!«

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