Stimmung

Leben in Zeiten des Krieges

In Israel ist Krieg. Und doch steht die Zeit nicht still. Die Menschen müssen arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, die Kinder gehen zur Schule, Cafés und Restaurants sind gut besucht, an den Stränden herrscht buntes Treiben. Nach elf Monaten des Krieges wollen die Einwohner des kleinen Nahoststaates wieder leben. Und doch hängt über allem eine große Schwere und Traurigkeit. Die sonst so robuste Seele der Israelis ist verwundet.

Jair Patz weiß im Moment nicht, wie es weitergehen soll, »finanziell und überhaupt …« Denn den großen Unterschied in seinem Leben machen 500 Meter. Eigentlich führte er in einem Kibbuz in Obergaliläa ein ruhiges Dasein. Seit fast einem Jahr aber ist alles anders, von Beschaulichkeit keine Spur mehr, die einst so hübsche Natur ist in großen Teilen verbrannte Erde. Die Auswirkungen des Beschusses der schiitischen Terrormiliz Hisbollah aus dem Libanon sind überall zu sehen.

Von der Regierung evakuiert

Israelische Gemeinden, die innerhalb eines 4,5-Kilometer-Radius zur Grenze liegen, wurden von der Regierung evakuiert und erhalten Gelder vom Staat. Der Kibbuz von Jair Patz aber liegt einen halben Kilometer weiter südlich. Sie hätten bleiben können. »Doch unser Leben war in Gefahr. 500 Meter halten die Raketen nicht ab.«

Also zog die fünfköpfige Familie in einen Kibbuz in der Nähe des Zentrums, ganz ohne finanzielle Hilfe. Vorübergehend sollte es sein. »Doch was heißt das?«, fragt der Vater von drei Kindern. »Niemand sagt uns, ob und wann es im Norden wieder friedlich wird.« Monatelang hoffte die Familie auf eine Rückkehr zum neuen Schuljahr. Der 1. September rückte näher, doch nichts geschah. »Es ist sehr schwierig im Moment. Ein Problem jagt das nächste.«

Jonathan Spier lebt in seiner eigenen Wohnung in Tel Aviv. Am Abend des 6. Oktober nahm er eine Straßenkatze dorthin mit. Ein halbes Jahr zuvor war er mit seiner Freundin zusammengezogen, das Leben war gut. Wenige Stunden später dann die brutale Zäsur. Wie in Trance zog er seine olivgrüne Uniform über und fuhr Richtung Süden. »Es gab viel Chaos, doch jeder tat, was er tun musste.« Monatelang sah sich das Paar kaum noch. »Es war extremer Stress, wir hatten keine Vorbereitung, sondern wurden in diese Situation hineinkatapultiert.« Trotzdem sei er anfangs »sehr froh« gewesen, Soldat zu sein. »Ich wollte helfen und habe alles andere, was mit meinem persönlichen Leben zu tun hatte, von mir geschoben.«

Irgendwann aber sei es so nicht mehr weitergegangen. »Nicht mit der Freundin, nicht mit allem anderen. Ich verlor mein normales Leben und mich selbst.« Schließlich verließ er die Armee »schweren Herzens«, wie er sagt, »denn mein Dienst war sehr wertvoll für mich«. Die Beziehungen mit den wichtigen Menschen in seinem Leben konnte er kitten. Heute arbeitet der 24-Jährige in einer Softwarefirma und beschäftigt sich mit Psychologie und Philosophie. »Ich habe rechtzeitig erkannt, dass ich bremsen musste. Es war das Richtige. Ob ich stolz darauf bin, weiß ich allerdings nicht.«

»Ich habe eine Therapie angefangen. Alles drehte sich im Kreis«, sagt Katja Barlia, die Mutter eines Soldaten.

Katja Barlia steht auf dem Künstlermarkt Nahalat Binyamin in Tel Aviv. Um sie herum kunterbunte Schmetterlinge, Kolibris, Blumen. Die Künstlerin, die Fensterbilder malt, lebt davon, dass sich Menschen mit hübschen Dingen umgeben möchten. Doch derzeit haben nur wenige einen Sinn dafür. Besonders gut laufen die Geschäfte, wenn viele Touristen aus dem Ausland auf den Markt kommen. Von denen aber gibt es im Moment so gut wie keine, und so ist ihr Einkommen um einen Großteil geschrumpft.

»In Israel gibt es immer ein gewisses Risiko, dass etwas passiert«, sagt Barlia. Zwar lebt sie in Hadera, einer Region, die von Raketen aus Gaza und von der Hisbollah verschont blieb. In Sicherheit wiegt sie sich aber nicht. »Wenn der Iran angreift, sind wir ohnehin alle Zielscheibe.«

Bewusstsein um die Unberechenbarkeit des Nahen Ostens

Das Bewusstsein um die Unberechenbarkeit des Nahen Ostens hat die Mutter von drei erwachsenen Kindern vorsorgen lassen. »Man muss erfinderisch werden, um mit allem umgehen zu können.« Dabei hat sie auch gelernt, sich Unterstützung zu suchen. Ihr Sohn war monatelang im Gazastreifen als Reservist eingesetzt, die Angst um ihn ihr ständiger Begleiter. »Ich habe eine Therapie angefangen. Alles drehte sich im Kreis, und ich merkte: Jetzt brauche ich Hilfe.«

Auch Simona Steinbrecher hofft auf Hilfe. Seit mehr als elf Monaten kennt sie nur unbeschreiblichen Schmerz. Sie lebt in einem Hotelzimmer, ihr Haus im Kibbuz Kfar Aza gibt es nicht mehr. Doch viel schlimmer ist für sie der Verlust ihrer geliebten Tochter: Doron Steinbrecher ist Geisel in Gaza. »Es ist nicht leicht, das Foto von meiner Tochter in Kameras zu halten und zu betteln, dass sie freikommt«, sagt sie und streicht über das Plakat, auf dem die fröhlich lachende junge Frau zu sehen ist. Daneben ist ein weiteres Bild von Doron. Mit eingefallenen Wangen und tiefen Augenschatten.

»Es ist ein Foto von dem Hamas-Video, das war am 107. Tag.« Dann spricht die Mutter zu ihrer Tochter: »Ich sah dich kränklich und geschwächt, aber stark im Herzen und im Geist. Ich fühlte, du weißt, dass ich in Gedanken bei dir bin, dass ich alles tun würde, um in der Dunkelheit, in der du bist, mit dir zusammen zu sein – ich würde mit dir tauschen.«

Ende November sei sie das letzte Mal voller Hoffnung gewesen. »Die Mütter und Kinder waren zurückgekehrt. Sie begannen mit der Freilassung der Frauen. Wir hatten das Gefühl, dass wir am Abend den Anruf bekommen und sie treffen würden«, erinnert sie sich. Eine Nachbarin aus dem Kibbuz, die gleich neben Doron lebte, kam frei. »Ich war die ganze Nacht wach und wartete auf den Anruf.« Auf das Klingeln, das die Folter beenden würde, die sie seit elf Monaten erlebt. Doch dieser Anruf kam bis heute nicht.

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