Ein Jahr lang hat sie allen Unkenrufen zum Trotz durchgehalten – die Acht-Parteien-Koalition von Ministerpräsident Naftali Bennett. Doch jetzt könnten die Tage der Macht tatsächlich gezählt sein. Nach einer weiteren Abstimmungsniederlage steht die israelische Regierung massiv unter Druck. »Nach vielen Störgeräuschen ist es dieses Mal ein echtes Getöse«, sagt der Leiter der Fakultät für Politikwissenschaften an der Hebräischen Universität in Jerusalem (HU), Gideon Rahat.
Zuvor hatte in der Knesset eine Mehrheit von 58 zu 52 Abgeordneten gegen das sogenannte Westjordanland-Gesetz gestimmt. Dabei geht es um die weitere Anwendung von israelischem Recht auf jüdische Siedler in den Palästinensergebieten. Eigentlich eine Abstimmung, die als offensichtlich gilt. »Denn die meisten Politiker sehen das Gesetz als Notwendigkeit an, weil sonst das Militärgesetz angewandt wird und wahrscheinlich Chaos ausbricht.«
Seit 1967, als das Gesetz eingebracht wurde, muss es alle fünf Jahre im Parlament bestätigt werden. Und so geschah es. Bis zum vergangenen Montag, als es zum ersten Mal in der Geschichte scheiterte. Allerdings nicht, weil die rechten Parteien der Opposition, die nahezu geschlossen dagegen stimmten, plötzlich ihre eigene Überzeugung anzweifelten, sondern nur, um »Dafka« zu sagen. Ende Juni würde es auslaufen, sollte es definitiv nicht bestätigt werden.
Niederlage Oppositionsführer Benjamin Netanjahu vom Likud forderte den Regierungschef im Anschluss daran sogleich zum Rücktritt auf. »Bennett – geh nach Hause. Es ist vorbei«, schrieb er auf Facebook. Allerdings ließ er das nicht zum ersten Mal wissen, sondern äußert sich regelmäßig auf diese oder ähnliche Weise.
Oppositionsführer Benjamin Netanjahu vom Likud forderte Regierungschef Naftali Bennett zum Rücktritt auf.
Jedoch hat der Ex-Premier keine alternative Regierung parat. Ihm fehlen seit Jahren in der Gruppe »seiner traditionellen Koalitionspartner« aus religiösen und Rechtsaußen-Parteien entscheidende zwei Stimmen, um die Mehrheit von 61 Mandaten in der Knesset zu erhalten, die 120 Sitze zählt. Die bräuchte er auch für ein konstruktives Misstrauensvotum, um die Bennett-Lapid-Koalition vom Chefsessel zu stürzen und Neuwahlen einzuleiten.
Mehrere hochrangige Regierungsmitglieder machten allerdings deutlich, dass sie das breit angelegte Bündnis trotz der Niederlage fortsetzen wollen. Finanzminister Avigdor Lieberman (Unser Haus Israel) kündigte auf Twitter eine erneute Abstimmung über das Gesetz für die kommende Woche an. Außenminister Yair Lapid twitterte ebenfalls: »Wie immer nach einer Niederlage werden wir stärker zurückkehren und in der nächsten Runde gewinnen.«
Doch einer scheint wankelmütiger als sonst: Justizminister Gideon Saar, der den Likud einst verließ, um Netanjahu die Stirn zu bieten. Der hatte, obwohl in dem gesamten Regierungsjahr loyal und zurückhaltend, kurz vor der Abstimmung von einem »Test für die Überlebensfähigkeit der Regierung« gesprochen. Die hatte im April ihre hauchdünne Mehrheit verloren, als die Abgeordnete Idit Silman von Bennetts Rechtspartei Jamina aus dem Bündnis ausgetreten war.
Kündigung Seitdem hangelt sich diese Minderheitsregierung von Zerreißprobe zu Zerreißprobe. Mal ist es eine Abstimmung, die nicht durchgeht, mal ein Koalitionsmitglied, das der eigenen Partei den Rücken kehrt, oder das Team des Regierungschefs, das sich langsam davonmacht. Innerhalb weniger Tage kündigten drei Angestellte des Premierministers, darunter sein Büroleiter.
Politologe Rahat ist überzeugt: »So geschieht es, wenn sich die Politik um Personen dreht. Ist der Politiker oben, scharen sich die Anhänger um ihn, droht er unterzugehen, verlassen sie ihn auf dem sinkenden Schiff.« Und genau das sei das Problem in Israel. »Was in Jerusalem geschieht, gleicht eher einer Seifenoper statt der ernsthaften Politik eines Landes. Es geht viel mehr um persönliche Beziehungen – wer wen mag, wer wem vertraut und wer eben nicht – als um sachbezogene Fragen.«
Hinter der jetzigen Krise steht der Versuch der Opposition, diese Regierung zu Fall zu bringen. Und Rahat meint zu wissen, wer hinter allem steckt: »Angeführt werden diese Aktionen von Netanjahu. Er erlaubt keinerlei Kooperation mit der Regierung. Auch nicht in Belangen, die vom ideologischen Verständnis her natürlich unterstützt werden sollten.«
»Nach vielen Störgeräuschen ist es dieses Mal ein echtes Getöse.«
Gideon Rahat
Auf den Punkt brachte dies Miri Regev, einstige Kulturministerin des Likud. Vor zwei Wochen wurden Tonaufnahmen an die Öffentlichkeit gebracht, auf denen sie zu hören ist, wie sie in einer Fraktionssitzung wettert: »Wir haben als Partei entschieden, dass wir eine kämpfende Opposition sein werden und diese Regierung stürzen wollen. Also haben wir keinerlei Unbehagen, gegen Behinderte, gegen Vergewaltigte, gegen misshandelte Frauen oder Soldaten abzustimmen. Weil wir alle verstehen, dass dies die Begründung ist.«
Parteikollege Yuval Steinitz bestätigte, dass es »morgen Witwen, Waisen, die Peripherie, eine Million und ein Behinderter, die Kranken, die Alten und Holocaust-Überlebende sein werden«. Die Koalition reagierte sofort auf die durchgesickerten Aufzeichnungen und ließ wissen, sie hätte die »Grausamkeit der Opposition« endlich aufgedeckt. »Dies ist keine kämpfende Opposition. Das ist Unterdrückung«, twitterte Lieberman.
maulkorb Regevs Getöse machte Schlagzeilen. Angeblich verpasste Netanjahu seinen Parteimitgliedern daraufhin umgehend einen Maulkorb: »Dagegen stimmen, aber den Mund halten« soll die Devise jetzt lauten.
So sehr führende Politiker der Koalition beteuern, sie wollten an der Regierung festhalten, sagt Rahat, dass »dieses Spiel zwar theoretisch jahrelang so weitergehen könnte, bis es reguläre Wahlen gibt«, allerdings geht er nicht davon aus, dass dies tatsächlich geschehe.
Seiner Meinung nach sei eine realistische Betrachtungsweise die folgende: »Wenn es nicht in den nächsten Tagen besser für die Koalition wird, werden alle verstehen, dass es keinen Ausweg aus dem Dilemma gibt. Dann wird es eine Verständigung in der Knesset für Neuwahlen geben. Wahrscheinlich mit neuen Allianzen und einigen Überraschungen«, nimmt er an. »Und das wäre für Israel alles andere als überraschend.«