Herr Conrad, alle Parteien haben jetzt dem ersten Teil des 20-Punkte-Plan von US-Präsident Trump zugestimmt. Was waren die Gründe, dass es jetzt zu einem solchen Deal gekommen ist?
Hamas stand in Gaza militärisch mit dem Rücken zur Wand. Die israelischen Streitkräfte (IDF) konnten ihre Netzwerke im Untergrund zwar nur unzureichend zerstören. Jedoch wurden mit der jüngsten IDF-Operation in Gaza-Stadt und der systematischen militärischen Besetzung des nördlichen Gazastreifens durch Israel die Handlungsmöglichkeiten von Hamas immer weiter eingeschränkt. Und auch die massiven propagandistischen Bemühungen zur internationalen Ächtung Israels haben zu keiner Erleichterung des militärischen Drucks auf Hamas in Gaza geführt. Für Katar, Ägypten und die Türkei stellte sich deshalb zunehmend die Frage, welchen Nutzen man noch aus der Fortführung oder gar Eskalation des Konflikts ziehen könnte. Und der spektakuläre israelische Luftangriff auf die Hamas-Führung in Doha hat einmal mehr die wachsenden Sicherheitsrisiken auch für bisher für sicher gehaltene Sanktuarien aufgezeigt.
Hat Katar die Hamas fallen lassen?
Zumindest wurde sie massiv unter Druck gesetzt. Die Herrscher Katars, aber auch die der anderen Staaten in der Region, hatten und haben keinerlei Interesse, für die palästinensische Sache und speziell für Hamas in politische Mithaftung genommen zu werden. Sicherheitspolitisch und auch wirtschaftlich sind die Risiken des Gaza-Konflikts einfach zu groß geworden. Dies galt und gilt im Übrigen auch für die USA.
Inwiefern?
Präsident Trump, seine Familie und viele seiner Freunde haben massive wirtschaftliche Interessen in der Golfregion, auch und gerade in Katar. Die wollte man nicht länger gefährden. Das gilt auch für die gleichfalls hochlukrativen Abraham-Abkommen. Es bestand also bei den genannten Parteien ein dringender Handlungsbedarf. Dieser ebenso fruchtlose wie schädliche Krieg in Gaza musste nun beendet werden.
Wie hoch würden Sie die Rolle von Trump und seiner Administration beim Zustandekommen dieses Deals bewerten?
Trump kann sich zu Recht eine zentrale Rolle bei der regionalen Konzertierung des Drucks auf die Konfliktparteien zuschreiben. Es sind seine über Jahre aufgebauten und gepflegten sehr persönlichen, von Affinitäten und profanen wirtschaftlichen Interessen getragenen Beziehungen zu den Herrschern in der Region, die maßgeblich, wenn nicht ausschlaggebend waren für das Zustandekommen des Deals. Amerikanische Unternehmerpersönlichkeiten wie Steve Witkoff und Jared Kushner kann man durchaus als Architekten ansehen.
Ist die Freilassung aller Geiseln und die mögliche Entwaffnung der Hamas in Gaza nicht eine Art Kapitulation für die Organisation?
Ja, im Kern ist es eine Kapitulation. Gaza ist nun als hochgerüstetes Bollwerk des Krieges gegen Israel verloren und die von Hamas seit 2007 aufgebaute eigene Herrschaft grundlegend in Frage gestellt. Die Lebensgrundlagen dort sind durch den systematischen Missbrauch der eigenen Bevölkerung und der zivilen Infrastruktur für Kriegszwecke weithin zerstört. Tausende Zivilisten wurden von der Hamas als »menschliche Schilde« geopfert, und auch ihre Führungsstrukturen in Gaza sind dahin.
Und wie sieht es mit der Unterstützung von außen aus?
Die Partner von Hamas in der »Achse des Widerstands«, Hisbollah und der Iran, wurden durch die einseitige Aktion am 7. Oktober 2023 unvorbereitet in diesen Krieg mit hineingezogen und damit ins Unglück gestürzt. Hamas hat auch seine Förderer und Gastgeber Katar und Türkei desavouiert und Ägypten unter massiven Druck gesetzt. Das Bonmot »Was brauchst du Feinde, wenn du hast solche Freunde« umschreibt sehr gut die Dilemmata, in die Hamas seine Verbündeten in der Region gestürzt hat. Da helfen auch alle antisemitischen Tiraden und Verunglimpfungen Israels nichts: Fakt ist, dass Hamas mit ihrem Fanatismus und ihrer Maßlosigkeit den Freunden in der Region erheblich geschadet hat. Dafür wird sie mit ihrer eigenen Marginalisierung bezahlen.
Dennoch: Von vielen Menschen, nicht nur in der arabischen Welt, wird Hamas seit dem 7. Oktober geradezu bewundert. Geht sie nicht doch ein stückweit als Sieger hervor?
Es ist in dieser Weltgegend, und nicht nur dort, gute Tradition, sich die eigene Lage schön zu reden. Natürlich wird es auch jetzt keine Verlierer geben, nur Sieger. Der »heroische Opfergang« von Hamas und den Palästinensern wird trotz alledem als Ruhmesblatt in die eigenen Annalen Einzug halten, und man wird sich einreden, erneut »mit Allahs Hilfe« einer Welt von Feinden widerstanden zu haben. Man wird das eigene Überleben als Sieg über, und Menetekel für den verhassten Feind zu deuten wissen. Das Narrativ, das Hamas unters Volk bringen wird, lautet so: Israel ist international entlarvt und geächtet, die palästinensische Sache ist mit einem »Meer von Blut und Opfermut« wieder ins Zentrum des Weltgeschehens gerückt, und die Massen in Europa, den USA und Australien stehen fest an der Seite des islamischen Widerstands. Das steht in der jahrzehntealten Tradition der Muslimbrüder, deren Gründer, Hassan al-Banna, bereits in den 30er Jahren von der aufzubauenden »Industrie des Todes« philosophiert hatte, mit der die Gemeinschaft der Muslime in ihrem grenzenlosen Opfermut den verhassten Feind in die Knie zwingen würde. Es wird darauf ankommen, dass sich dieses Narrativ sich an den Realitäten verbraucht.
Wie wahrscheinlich ist es, dass dieser Deal – anders als der vom Januar diesen Jahres – in Gänze umgesetzt wird?
Die Chancen dafür sind groß, aber nur, solange der beschriebene Konsens der Regionalstaaten zuzüglich der USA zur Umsetzung Bestand hat. Der Teufel wird auch hier im Detail stecken. Man wird wohl gewisse Formelkompromisse in Bezug auf die Entwaffnung von Hamas und ihre Auflösung zu erwarten haben. Das ist ja auch nicht so einfach, denn wer will und kann die Abgabe der Waffen in der Praxis durchsetzen und kontrollieren? Zudem weiß ja niemand zuverlässig, wie viel Hardware sich noch in Händen von Hamas befindet.
Wie kann man verhindern, dass der Gazastreifen nicht langfristig erneut in die Hände der Terrororganisation fällt?
Das wird in der Tat schwer. Es sei denn, es gäbe eine Art »Enthamasifizierung«. Die müsste getragen sein von den Clans im Gazastreifen. Denn die wissen, wer auf welcher Seite gestanden hat. Allerdings würde ich in die »Selbstreinigungskräfte« der Gesellschaft von Gaza nicht allzu viel Vertrauen setzen. Die Mehrzahl der Clans hatte auch Mitglieder in der Hamas-Verwaltung und in deren Milizen platziert. Und auch hier gilt: Blut ist dicker als Wasser. Und wenn Hamas klug taktiert, könnte sie als klandestines Netzwerk überleben und in ein paar Jahren erneut versuchen, die Gunst der Stunde zu nutzen.
Inwiefern kann ein Wandel in Gaza durch Kräfte von außen herbeigeführt werden?
Das ist schwer zu sagen. Ortsfremde Sicherheitskräfte, auch Palästinenser, die nicht aus Gaza stammen, werden schon im eigenen Sicherheitsinteresse Kompromisse mit den örtlichen Gegebenheiten eingehen müssen. Kollusion und Kooperation sind, wie bereits bei UNRWA und anderen internationalen Organisationen in der Vergangenheit, auch in Zukunft zu erwarten. Ich kann mir jedenfalls schwer vorstellen, wie die strikte Durchsetzung einer öffentlichen Ordnung machbar sein soll, wenn deren Regeln von einer Mehrheit, oder starken Minderheit, in Gaza nicht anerkannt werden. Hinzu kommt: Solche Fragen könnten im Interesse des dringend nötigen Wiederaufbaus schnell in den Hintergrund geraten.
Das klingt sehr pessimistisch. Man muss also mit Rückschlägen bei der Umsetzung des 20-Punkte-Plans rechnen?
Zwischenfälle ernsterer Art sind jedenfalls dann zu erwarten, wenn die Ambitionen bei der Umsetzung des Plans zu groß werden. Sollten alle Beteiligten sich an das Motto aus Brechts Dreigroschenoper halten – »Verfolgt das Unrecht nicht zu sehr« –, könnten sich die Dinge eher positiv und zumindest kurzfristig zum allseitigem Nutzen entwickeln.
Offenbar hat die Hamas zuletzt die Kontrolle verloren über ihre Geiseln und kann nicht mehr alle lokalisieren. Wie bewerten Sie das?
Die kriegerischen Umwälzungen in Gaza haben nahezu zwangsläufig zu Kontrollverlust geführt, spätestens mit der Zerschlagung der Kommunikationsnetze. Hinzu kommt: Ein Teil der Geiseln wurde offenbar in die Hände verbündeter Clans gegeben. Wenn das stimmt, hängt ihr Schicksal auch von jenem dieser Familien ab.
Hat Israel es nach fast zwei Jahren Krieg gegen die Hamas geschafft, sich dauerhaft vor neuen Angriffen zu wappnen? Oder steht irgendwann erneut ein 7. Oktober bevor?
Systematisch vorbereitete militärische Aktionen mit Breitenwirkung sind in den nächsten Jahren weder aus dem Libanon noch aus Syrien, Jordanien, Ägypten oder Gaza zu erwarten. Gleichwohl muss es nun eine der zentralen Aufgaben der israelischen Dienste sein, genau zu beobachten, wie all diese Player und auch der Iran agieren und wieder aufrüsten.
Wird der Nahe Osten in den nächsten Monaten und Jahren friedlicher werden?
Die Konflikte in Gaza und im Westjordanland bleiben auf absehbare Zeit hin ungelöst und die friedliche Koexistenz ein Traum. Zudem gibt es aktuell Tendenzen hin zu modernen Formen der Intifada. Dem von Donald Trump ausgerufenen »immerwährenden Frieden«, der, das wusste bekanntlich schon Immanuel Kant, bekanntlich an seinen eigenen Voraussetzungen scheitert, kann man nur näherkommen, wenn ein von Eigeninteresse getragener Konsens zur Schaffung und Aufrechterhaltung einer Zone der gemeinsamen Prosperität, im weitesten Sinne vergleichbar mit der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft nach dem Zweiten Weltkrieg, entsteht. Dazu dürfte aber, auch wenn das zynisch klingt, das Ausmaß der Zerstörungen und die daraus resultierende Katharsis der politischen Entscheidungsträger auf Sieger- und Verliererseite nicht ausreichen. Auch unter diesem Aspekt ist 1945 nicht annähernd mit 2025 zu vergleichen.
Was kann Deutschland, was können die Europäer beitragen in der nächsten Zeit, um das Abkommen abzusichern?
Uns bleibt im Moment nur die Rolle des »Facilitators«. Die sollte man nicht geringschätzen. Zunächst gilt es aber darauf zu achten, wie sich die regionalen Kräfte, insbesondere in der Golfregion, positionieren. Es wird an ihnen liegen, die sozio-ökonomische Voraussetzungen für die friedliche Koexistenz zu schaffen. Und das bedeutet, dass sie die Konflikte im Nahen Osten nicht mehr dafür nutzen, um aus ihnen heraus eigene Vorteile zu generieren. Der Wiederaufbau in Gaza, im Libanon und in Syrien sollte im wohlverstandenen Eigeninteresse aller Regionalstaaten liegen. Die Levante als Zone des gemeinsamen Wohlstands aufzubauen, das wäre für mich eine pragmatische Vision für das kommende Jahrzehnt.
Das Interview mit dem Islamwissenschaftler und langjährigen Mitarbeiter des Bundesnachrichtendienstes führte Michael Thaidigsmann.