Es ist 2.45 Uhr in der Nacht. Die Sirene reißt uns aus dem Schlaf. Wir springen aus unseren Betten. Längst sind wir an den Drill gewöhnt. Eineinhalb Jahre Kriegszustand machen etwas mit dem Körper, dem Bewusstsein und dem Unbewussten.
Eden, meine kleine Tochter, ist sofort wach, und steht mit ihrem Kuscheltier vor mir. »Was ist los, Mami?«, fragt sie. Meinen 16-jährigen Teenager muss ich aus dem Bett zerren. Er war erst zwei Stunden zuvor nach Hause gekommen.
Dann stehen wir zu viert im Flur unseres Hauses. Der Amber-Alert, die Vorwarnung auf einen Angriff, pingt bedrohlich auf all unseren Mobiltelefonen. Damit kommt die Anweisung vom Heimatfrontkommando der israelischen Armee, sich in einen Schutzraum zu begeben. Wir wissen nicht, was los ist. Wissen nicht, wie viel Zeit wir haben, um uns in Sicherheit zu bringen.
Hektisch versuchen wir herauszufinden, wer dieses Mal angreift. Die Huthi im Jemen? Hisbollah? Der Iran? Tags zuvor hatten sich die Nachrichten überschlagen, dass »Israel bereit« sei, die Mullahs in Teheran anzugreifen.
Plötzlich sehe ich ein orangenes Ausrufezeichen mit dem Wort »Earthquake« auf meinem Handy. Ich schreie fast. Ein Erdbeben? Dazu der Jemen? Der Iran? Meine Gedanken spielen verrückt, mein Herz rast.
»Ihr wird nichts passieren«
Wir füllen hastig ein paar Flaschen mit Wasser, schnappen eine Tüte Kekse und ein paar Kissen, füllen das Futter für unsere Katze auf. »Minka muss mit«, weint meine kleine Tochter. Doch Minka ist fast 20 Jahre alt. Der Stress, in Eile in eine andere Umgebung geschleppt zu werden, wäre vielleicht zu viel für sie. Die Tierärztin hat geraten, sie im Notfall zu Hause zu lassen. »Immerhin ist sie taub und hört die Sirenen nicht«, beruhige ich Eden. »Ihr wird nichts passieren.«
Meine große Tochter ruft an. Sie wohnt mit ihrem Freund ein paar Minuten entfernt. »Wir haben den Iran angegriffen. Geht in den Bunker.« Also doch kein Erdbeben, frage ich. »Nein, Fake-News«, sagt sie knapp. »Geht jetzt!«
Wir schlüpfen in unsere Schuhe und rennen raus. Unser Haus ist alt und hat keinen Sicherheitsraum. Der nächste öffentliche Bunker ist rund zwei Minuten entfernt. Wir hoffen, dass wir genug Zeit haben.
»Kommt mit uns mit«
Auf der Straße rennen einige aufgeregte junge Leute, schauen sich verwirrt um. Es ist Donnerstag, die Ausgehnacht der Israelis, in der viele aus dem Umland nach Tel Aviv kommen, um in den Bars und Clubs der Stadt zu feiern. »Wohin?«, rufen sie uns zu. »Kommt mit uns mit«, rufen wir zurück.
Der unterirdische Schutzraum ist neben einer Schule, ein paar Bänke stehen darin, die zwei großen Ventilatoren an der Wand surren. Eine Klimaanlage gibt es nicht, die Luft ist stickig. Zwei Familien mit kleinen Kindern, eine ältere Frau und zwei junge Männer sind schon vor uns angekommen.
»Was ist eigentlich genau los?«, fragt mein Mann in die Runde. »Einer der Männer grinst: »Das war Netanjahus Kompromiss mit den Haredim, um die Koalition nicht zu sprengen. Keine Pride Parade …« Israelischer Galgenhumor um drei Uhr morgens.
Kein Mobilfunknetz
Wir setzen uns hin und versuchen weiter herauszufinden, was genau passiert. Doch im Bunker ist kein Mobilfunknetz. Mein Mann geht die Treppe hinauf. »Wir können wieder gehen«, lässt er uns zwei Minuten später wissen. »Im Moment gibt es keine unmittelbare Bedrohung.« Kaum liegen wir im Bett, pingt es erneut auf unseren Handys. Amber Alert: »Begeben Sie sich in Sicherheit.« Und wieder machen wir uns auf den Weg in Richtung Bunker.
Viermal geht es so in dieser Nacht. Schließlich schlafen meine Kinder völlig erschöpft auf dem Sofa ein. Ich streichele ihre Hände. »Ob sie gleich wieder hochgeschreckt werden«, denke ich und schaue ein letztes Mal auf mein Handy. Es ist kurz vor sieben. Und ich weiß schon jetzt, dass der nächste Tag keine guten Nachrichten bringen wird.