Herr Freilich, was war das Hauptziel der heutigen Luftangriffe gegen den Iran? Die Zerstörung des iranischen Atomprogramms?
Ich glaube nicht, dass es darum ging, das Atomprogramm zu zerstören. Soweit ich das beurteilen kann, ging es darum, das iranische Atomprogramm für einen längeren Zeitraum zurückzuwerfen und den Iranern einen Anreiz zu geben, an den Atomgesprächen mit den Vereinigten Staaten wieder teilzunehmen, vielleicht mit einer größeren Kompromissbereitschaft als bislang.
Wäre eine Rückkehr an den Verhandlungstisch nicht ein massiver Gesichtsverlust für das Regime? Schließlich ist es Israel gelungen, sowohl den Kommandeur der IRGC als auch den Stabschef der iranischen Armee zu töten.
Das wird sicher nicht über Nacht geschehen. Es wird wohl Monate dauern, und Israel wird einen Preis dafür zahlen müssen. Um es klar zu sagen: Es ist noch längst nicht vorbei. Aber die Iraner werden ihre Optionen abwägen müssen. Und vieles hängt davon ab, wie sich die USA verhalten. Wenn Washington ebenfalls eine harte Haltung einnimmt, wird das die Iraner ermutigen, an den Verhandlungstisch zurückzukehren. Aber auch ein anderes Ergebnis ist möglich: dass der Iran die Gespräche mit den USA abbricht, sein Atomprogramm wieder aufnimmt und schließlich den »Breakout« unternimmt, um Atomwaffen zu bekommen. Auch hier wird die Reaktion der USA entscheidend sein.
In diesem Fall wäre der Angriff aber als Fehlschlag zu werten, oder?
Alles hängt davon ab, wie groß der Schaden ist und was Israel davon hat. Wenn es das iranische Atomprogramm nur um zwei Monate zurückgeworfen hat, dann war der Schlag definitiv nicht erfolgreich. Wenn es jedoch um einige Jahre zurückgeworfen wurde, dann schon.
Warum hat Israel angegriffen, und warum gerade jetzt?
Das hat sicherlich mit dem Scheitern der Verhandlungen über das Atomprogramm zu tun, aber auch mit dem jüngsten Bericht der IAEO über die Anreicherungsaktivitäten des Iran. Zudem hat Israel neue Beweise für iranische Aktivitäten im Hinblick auf die Entwicklung einer Atombombe vorgelegt. Und es gibt noch einen dritten Aspekt: Benjamin Netanjahus politisches Kalkül. Er will seine politische Karriere retten. Der Iran war schon immer sein »Legacy issue«. Dafür möchte er in die Geschichtsbücher eingehen und nicht für den 7. Oktober und all die anderen Misserfolge seiner Regierung. Ich glaube auch nicht, dass er schon bereit ist, seine Memoiren zu schreiben. Nein, Bibi will so lange wie möglich an der Macht bleiben.
Hat Netanjahu die Rückendeckung Washingtons für den Angriff?
Ich bin überzeugt, dass Donald Trump genau wusste, dass es heute passieren würde, dass er das stillschweigend unterstützt hat. Hätte Trump es nicht gewollt, hätte Israel es nicht getan. Und auch nicht, wenn Trump geglaubt hätte, dass er ohne einen Angriff noch eine Einigung am Verhandlungstisch hätte erzielen können.
Wie lange wurde diese Operation vorbereitet?
Israel hat sich seit 30 Jahren intensiv darauf vorbereitet. Die konkreten Schritte wurden wahrscheinlich erst in den letzten Monaten eingeleitet, seit dem Zusammenbruch der iranischen Achse im vergangenen Herbst. Mit seiner Zerstörung des iranischen Luftabwehrsystems hat Israel im Grunde genommen den Weg frei gemacht.
Erwarten Sie, dass die Iraner mit Vergeltungsmaßnahmen reagieren und Israel großen Schaden zufügen werden?
Es wird sicher schmerzhafter sein als bei vorangegangenen Gelegenheiten. Es werden vermutlich mehr Drohnen und Raketen durchkommen. Aber wenn die USA und andere Länder Israel beistehen, dürften die Auswirkungen begrenzt sein.
Was ist mit den arabischen Staaten? Werden sie wie beim letzten Mal beim Abschuss iranischer Raketen und Drohnen kooperieren? Oder erwarten Sie, dass sie sich diesmal anders verhalten werden?
Ich glaube nicht, dass sie sich so stark engagieren werden wie beim letzten Mal. Aber wir müssen abwarten.
Wird es jetzt zu einem regionalen Krieg kommen, in dem iranische Proxys wie die Hamas, die Huthi und die Hisbollah ihre Angriffe noch einmal auf Israel verstärken?
Jedenfalls wird das nicht wie beim letzten Mal in ein oder zwei Tagen wieder vorbei sein. Nach dem, was ich in den israelischen Medien gelesen habe, dürfte es einige Wochen dauern. Die Hamas kann nicht viel tun, die Hisbollah schon eher. Sie könnte versuchen, Israel aus dem Libanon heraus Schaden zuzufügen, und das könnte Israel als Vorwand dienen, um das Werk zu vollenden und sie noch weiter zu schwächen. Und die Huthi können versuchen, Israel mit ein paar Raketen zu treffen. Aber die meisten davon werden abgefangen werden. Bis jetzt konnten die Huthi Israel keinen ernsthaften Schaden zufügen.
Wie lange noch kann Israel, nach mehr als 20 Monaten Kampf, einen Krieg an mehreren Fronten führen?
Es sind gar nicht mehr so viele Fronten. Die einzigen, die noch über nennenswerte Kapazitäten verfügen, Israel wehzutun, sind die Hisbollah-Milizen. Und selbst deren Fähigkeiten sind nur noch ein Bruchteil dessen, was sie einmal waren. Und vergessen Sie nicht, dass die politische Lage im Libanon eine andere ist als noch vor einem Jahr. Die Hisbollah nimmt zwar ihre Befehle aus Teheran entgegen. Sie verfügt aber über eine gewisse Unabhängigkeit. Und sie ist auch lokalen Zwängen, der libanesischen Politik zum Beispiel, ausgesetzt. Sie hat in den letzten Monaten sehr, sehr vorsichtig agiert. Es ist natürlich dennoch möglich, dass die Hisbollah Israel erneut angreifen wird. Andererseits sind die Fähigkeiten der Hamas und der Huthi recht begrenzt.
Welche Auswirkungen wird dieser Angriff auf Israels ohnehin schon angeschlagenes internationales Ansehen haben?
Israel wird noch mehr gehasst werden, weltweit.
Auch in der arabischen Welt, wo viele ebenfalls die wachsende Macht des Iran fürchten?
Die Araber dürften diesbezüglich gemischte Gefühle haben. Einerseits werden sie erleichtert sein, wenn sie sehen, dass der Iran tatsächlich geschwächt ist. Alle werden verstehen, warum Israel das getan hat. Andererseits könnten sie auch befürchten, dass Israel in der Region zu dominant und mächtig wird.
Was könnte Israel tun, um Vertrauen wieder aufzubauen?
Wenn Netanjahu eine wichtige diplomatische Initiative in Bezug auf Gaza und die Palästinafrage ergreift, könnte er die Kritik abfedern. Zumindest auf der Führungsebene. Aber die entscheidende Frage ist eine ganz andere: Wie werden die USA reagieren? Und auch: Haben wir es geschafft, eine existenzielle Bedrohung abzuwehren? Denn dafür wäre es wert, einen Preis zu zahlen.
Chuck Freilich ist ehemaliger stellvertretender nationaler Sicherheitsberater in Israel und lehrt an der Columbia University in New York und an der Universität Tel Aviv. Er ist außerdem Senior Editor des »Israel Journal of Foreign Affairs«. Mit ihm sprach Michael Thaidigsmann.