Seine Geschichte beginnt eigentlich mit einer Entscheidung: Er habe das Leben gewählt. Das sagt Alon Ohel in seinem ersten Interview, das er dem israelischen Kanal 12 gibt. Er will alles erzählen und lässt die Kameras ganz nah an sich heran. Sogar in den Operationssaal vor seiner Augen-OP, in Momenten des Schmerzes, der Tränen. Er will, dass die Menschen wissen, was geschah. Er spricht frei heraus, so offen, als gäbe es keine Kamera.
Der 24-Jährige ist ein hübscher junger Mann. Er sitzt im Wohnzimmer seiner Eltern in der nördlichen Gemeinde Lavon. Jeans, graues T-Shirt, barfuß, mit einem gepflegten Bart. Neben ihm steht ein Klavier. Alon Ohel, der neben der israelischen auch die deutsche Staatsangehörigkeit besitzt, wurde am 7. Oktober 2023 während des Hamas-Massakers vom Nova-Musikfestival verschleppt. 738 Tage war er in der Gewalt der Terrororganisation in Gaza. Die meiste Zeit davon in Tunneln.
»Was ich sagte, sagte er. So war es. Nur wie – das wissen wir nicht«
»Ich hatte die Wahl, in jeder Sekunde, aufzugeben oder weiterzumachen. Und ich habe mich entschieden, weiterzumachen. Du kannst zusammenbrechen, weinen. Aber du darfst die Hoffnung nicht verlieren – das habe ich mir immer wieder gesagt.«
Die Aufnahmen in Kanal 12 erzählen auch von der engen Verbindung zwischen ihm und seiner Mutter Idit. »Es klingt seltsam, fast mystisch«, sagt er. Und doch sei es wirklich passiert – dort, in den unterirdischen Gängen tief unter der Palästinenserenklave. »Was sie gesagt hat, habe ich zur selben Zeit dort gesagt. Ich kann es nicht erklären.« Seine Mutter bestätigt: »Was ich sagte, sagte er. So war es. Nur wie – das wissen wir nicht.«
Der junge Israeli erinnert sich an den schwärzesten Tag der Geschichte seines Landes: Eine ganze Gruppe junger Leute vom Nova-Festival flüchtete sich vor den Raketen aus Gaza in einen Bunker. »Wir stehen dort – in dem heute als ‚Todesbunker‘ bekannten Raum – und denken: ‚Wo zur Hölle ist die Armee? Warum kommen sie nicht?‘ Die Raketen hören nicht auf. Dann kommen Handgranaten, die Terroristen schießen. Es war reiner Wahnsinn.«
»Du wirst einfach herausgerissen aus dem Leben«
Der damals 22-Jährige überlebt – und wird nach Gaza verschleppt. »Ich war voller Beton von dem explodierenden Bunker, Blut tropft unaufhörlich. Jeder Zentimeter des Körpers schmerzt. Ich bin an den Augen verletzt, sehe kaum noch.« Sie kommen in ein Krankenhaus in Gaza-Stadt. »Alles ist voller Menschen, sie schlagen wie wild auf uns ein.« Als der Reporter einwirft: »Die unschuldigen Menschen?«, hält Ohel inne. »Dort war niemand unschuldig.«
»Du wirst einfach herausgerissen aus dem Leben«, führt er fort. »Von einer Sekunde auf die nächste – und in die Hölle geworfen.« Dabei sei er damals fast noch ein Kind gewesen, sagt Fernsehjournalist Almog Boker, der ihn interviewt. »Ja«, sagt Ohel, und seine Stimme bricht. »Haiti fucking yeled.« Er sei »doch nur ein Kind« gewesen. »22 Jahre. Was wusste ich schon vom Leben? Wie sollte ich das alles begreifen?«
Im Krankenhaus wird er »einfach zusammengenäht, ohne Betäubung«. Die Schrapnelle in Kopf, Schulter und Augen bleiben im Körper. Dann landet er in irgendeinem Raum, in irgendeinem Haus, und weiß vor Schmerzen nicht mehr ein noch aus. »Das waren Schmerzen einer anderen Art. Unvorstellbar.« Zwei Wochen lang spricht er nicht.
»Ein kleiner Fehler, und du bist tot«
Dann, eines Tages, hört er Kampfjets über sich, Bomben, die ganz in der Nähe einschlagen. »Und man denkt: Ein kleiner Fehler, und du bist tot. Getötet von der Armee, die dich schützen soll. Das ist unbegreiflich.« Boker sagt, die Sicherheitskräfte hätten behauptet, die Orte der Geiseln zu kennen. »Das haben wir hier gehört. Hattest du das Gefühl, die Armee wusste, wo ihr seid?« Ohel widerspricht: »Ach was – sie wussten gar nichts.«
»Niemand, der nicht dort war, kann das verstehen«
Am 52. Tag führen sie ihn in die Tunnel. Dort trifft er Eli Sharabi, Hirsh Goldberg-Polin, Ori Danino und Almog Sarussi. Goldberg-Polin, Danino und Sarussi werden weggeführt. Es ist während eines Waffenstillstands, und Ohel denkt: »Okay, sie gehen nach Hause.« Doch alle drei werden – gemeinsam mit den weiblichen Geiseln Eden Yerushalmi und Carmel Gat – nach 331 Tagen Gefangenschaft von der Hamas ermordet, wahrscheinlich als sich israelische Soldaten den Geiseln näherten.
Ohel erzählt weiter: »Eines Tages bekamen wir eine sehr kleine Schale Nudeln, die sollte für alle reichen. Da bin ich ausgerastet. Ich habe gegen die Wand geschlagen und mir wohl die Hand gebrochen. Ich konnte einfach nicht mehr.« Und dann war er da. Er, das ist Eli Sharabi, Ehemann, Vater zweier Töchter, aus dem Kibbuz Be’eri. »Er hat mich umarmt.« Als die Erinnerung hochkommt, laufen dem jungen Mann Tränen über das Gesicht. Er lässt sie zu. »Es war die Umarmung eines Vaters.« Die Sehnsucht nach Nähe, nach Familie – sie sei kaum auszuhalten gewesen. Eli Sharabi hebt ihn immer wieder auf, baut ihn auf.
Ohel erinnert sich daran, wie Sharabi von seiner Frau und seinen Töchtern erzählte, »was für eine Familie« sie gewesen seien. »Welchen Vater diese Mädchen hatten. Was für ein unglaublicher Vater...« Auf die Frage, was Sharabi für ihn sei, antwortet Ohel, sichtlich bewegt: »Wie ein Vater.« Lianne und die beiden Töchter, Yahel und Noya, wurden am 7. Oktober ermordet. »Es war so, als ob ich sie kannte«, sagt er dann und weint hemmungslos.
Als Boker sagt, er und die Zuschauer wollten wirklich verstehen, was dort geschehen sei, stoppt ihn Ohel. »Das ist unmöglich. Niemand, der nicht dort war, kann das verstehen. Du kannst nirgendwo hin. Wir hatten Ketten an den Beinen.« »Monatelang?«, fragt der Reporter. »Eineinhalb Jahre«, ist die Antwort. »Ich war wie ein Affe. Ich habe gegessen wie ein Hund. Dort bist du kein Mensch. Du bist ein Tier.« Sogar in Gefängnissen gebe es Regeln. »Abear ich war nicht im Gefängnis. Ich war Geisel. Festgehalten von Irren.«
»Die Terroristen kennen keine Musik. Sie dürfen nicht singen, nicht tanzen«
Der Hunger zählte zu den schlimmsten Qualen. »Ein Pita und vier Löffel Bohnen am Tag. Eine Zeit lang nur trockene Datteln.« An Hunger gewöhne man sich nicht. »Es ist Schmerz im ganzen Körper. Wir waren dünn wie Blätter, nur Haut und Knochen. Es ist kaum erklärbar. Man hat keine Energie für irgendetwas.«
Alon Ohel ist ein talentierter Pianist und Sänger. Auch die Musik habe ihn gerettet. »Ich habe immer gesungen oder auf meinem Körper imaginäres Klavier gespielt. Wenn die Terroristen es hörten, sagten sie, ich soll aufhören. Sie kennen keine Musik. Sie dürfen nicht singen, nicht tanzen.« Zurück zu Hause geht er mit seiner Familie zum Platz der Geiseln in Tel Aviv und setzt sich an das Klavier, das dort steht, um an sein Schicksal zu erinnern. Menschen applaudieren, weinen, singen mit, als er ein Lied anstimmt.
Einen Moment während der zwei Jahre des Horrors vergisst er nie: Als klar wurde, dass andere Geiseln während eines Waffenstillstands freikommen – und er zurückbleiben würde. »Ich wusste nicht, was ich tun sollte. In dieser Höhle, ganz allein.« Die Gedanken an seine Familie geben ihm Kraft. Denn er wusste: Seine Liebsten kämpfen draußen für ihn. Einmal zeigen ihm die Entführer ein Video vom Platz der Geiseln. Er sieht eine fremde Frau, die ein Schild mit seinem Gesicht hochhält. »Das war ein Wendepunkt«, sagt er. »Wenn fremde Menschen für mich kämpfen – wie könnte ich dann aufgeben?«
»Dann war ich in einem riesigen Konflikt«
Acht Monate ist er völlig isoliert, vegetiert in einer Nische eines Tunnels vor sich hin. Der Psychoterror ist »dauerhaft und extrem«. Einer der Entführer macht jedes Mal, wenn er vorbeigeht, die Geste, ihm die Kehle durchschneiden zu wollen.
Ohel erlebt auch sexuelle Gewalt. Ein Terrorist zwingt ihn unter die Dusche und beginnt, ihn einzuseifen. Der Israeli versucht, ihn wegzuschieben: »Ich kann das allein.« Doch der Mann lässt nicht ab. Auf die Frage, was dann geschah, sagt er leise: »Ja, er berührte mich überall. Es war sehr unangenehm.« Zum Glück, fügt er hinzu, wiederholte sich dieser Horror nicht.
Schließlich hätten die Entführer ihn gefragt, ob man andere Geiseln zu ihm bringen solle. »Dann war ich in einem riesigen Konflikt. Die Einsamkeit war unerträglich. Aber weil ich allein war, bekam ich etwas mehr Essen.« Er entscheidet sich gegen Gesellschaft, bittet um ein Buch und bekommt Harry Potter auf Englisch. Das letzte Kapitel, in dem Dumbledore stirbt, liest er nicht. »Ich wusste, das wird nicht mein Ende sein.«
»Nichts ist selbstverständlich«
»Ich war dort ein Gefangener, wie ein toter Mensch. Ich habe gebetet, endlich wieder Licht zu sehen.« Und dann ist es soweit: Am 13. Oktober kommt er durch ein von US-Präsident Donald Trump vermitteltes Waffenstillstands- und Geiselbefreiungsabkommen zusammen mit 19 anderen jungen Israelis in Freiheit. Jetzt will er nicht zurückschauen, sondern nach vorn: »Ich will mich wieder aufbauen, in die Zukunft blicken, weitergehen. Reisen, Menschen treffen, Musik machen.«
In der letzten Aufnahme sitzt Alon Ohel, ein junger Israeli, der am 7. Oktober vor zwei Jahren tanzen ging und in der Hölle auf Erden landete, in Badehose im Meer vor der Küste Israels und lächelt. Es ist November. »Ein bisschen kalt«, scherzt er. »Aber das sind die Momente, auf die ich so lange gewartet habe. Denn nichts ist selbstverständlich. Gar nichts…«