Justizreform

Historische Entscheidung

Das Votum des Obersten Gerichtshofs in Jerusalem könnte zu einer Verfassungskrise führen. Foto: Flash90

Im Juli 2023 sah sich Israels Regierung noch auf der Siegerstraße. Mit einer Mehrheit von 64 der 120 Abgeordneten hatte die Knesset für die Abschaffung der sogenannten Angemessenheitsklausel gestimmt, einem der zentralen Elemente des von Ministerpräsident Benjamin Netanjahu zu Beginn des Jahres 2023 angestoßenen Umbaus des Justizwesens.

Auf diese Weise sollte dem Obersten Gerichtshof die Möglichkeit genommen werden, Entscheidungen der Politik auf ihre »Angemessenheit« hin zu überprüfen. Wie beispielsweise im Fall des einstigen Innenministers Arie Deri, der wegen Korruption bereits zweimal verurteilt worden war. Die Obersten Richter erachteten ihn deshalb als ungeeignet für ein erneutes Ministeramt und durchkreuzten so im Januar 2023 die Pläne Netanjahus, den Vorsitzenden der ultraorthodoxen Partei Schas in sein Kabinett aufzunehmen.

Gegen das Vorhaben der Regierung, durch die Abschaffung der »Angemessenheitsklausel« den Obersten Gerichtshof zu entmachten, hatte es bereits im Vorfeld massive Proteste gegeben. Hunderttausende Israelis gingen regelmäßig auf die Straße. Eines der Argumente der Gegner der Entscheidung vom Juli lautete, dass die Knesset ihre Kompetenzen überschritten habe, indem sie eine Grundgesetzänderung betrieben hätte, die vor allem politisch motiviert war. Das aber sei nicht rechtmäßig, woraufhin acht Petitionen beim Obersten Gerichtshof eingereicht und zugelassen wurden.

Rechtsstaatlichkeit, Gewaltenteilung, Unabhängigkeit der Justiz

Nun hat der Oberste Gerichtshof am Montag in einem dramatischen Urteil die Entscheidung der Knesset vom Juli wieder kassiert – eine Premiere. Denn noch nie in der Geschichte Israels wurde ein vergleichbares Gesetz für unrechtmäßig erklärt. Acht der Richter stimmten für diesen Schritt, sieben dagegen. 13 der 15 Richter betonten in ihren Stellungnahmen, dass ihrer Einschätzung nach der Oberste Gerichtshof durchaus befugt sei, solche Grundgesetze zu überprüfen und gegebenenfalls zu intervenieren.

Zwölf der 15 Richter waren ferner der Ansicht, dass die Knesset keine Änderung eines Grundgesetzes beschließen könne, die auf einen Verstoß gegen die Grundwerte Israels als jüdischer und demokratischer Staat hinausläuft. Dazu gehören unter anderem die Rechtsstaatlichkeit, die Gewaltenteilung und die Unabhängigkeit der Justiz.

»Während unsere Soldaten Seite an Seite an verschiedenen Fronten kämpfen, und während die ganze Nation über den Verlust vieler Leben trauert, darf das israelische Volk nicht durch Streitigkeiten gespalten werden«, heißt es dazu in einer ersten Reaktion seitens Justizminister Yariv Levin. Er bezeichnet das Urteil als beispiellos in der demokratischen Welt und kündigte an, dass es »uns nicht aufhalten« werde, den Umbau des Justizwesens weiter voranzutreiben. Wie das konkret geschehen werde, dazu äußerte sich Levin jedoch nicht.

Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs sei ein bedauerliches und problematisches Ereignis, das den Grundsatz der Gewaltenteilung weiter aushöhlen würde, so die Schas-Partei in einem offiziellen Statement. »Ein solches Urteil mitten in einer schwierigen Kriegssituation, in der der Zusammenhalt und die Einheit der Nation wichtiger denn je sind, schwächt unsere Kriegsanstrengungen und bringt uns in die Zeit vor dem 7. Oktober zurück, als wir eine Spaltung der Nation erleben mussten.«

Noch nie in der Geschichte Israels wurde ein vergleichbares Gesetz für unrechtmäßig erklärt.

Und Knessetsprecher Amir Ohana ergänzt: »Es versteht sich von selbst, dass der Oberste Gerichtshof nicht befugt ist, Grundgesetze einfach aufzuheben«, so der Likud-Politiker und Netanjahu-Vertraute. »Aber noch offensichtlicher ist die Tatsache, dass wir uns nicht darauf einlassen können, solange der Krieg weiterläuft.«

Anders dagegen die Einschätzung von Yair Lapid: »Die Entscheidung des Obersten Gerichtshofs bildet den Abschluss eines schwierigen Jahres des inneren Konflikts, der uns auseinanderdividiert und zur schlimmsten Katastrophe in unserer Geschichte geführt hat.« Der ehemalige Ministerpräsident und aktuelle Oppositionschef mahnt, dem Urteil Folge zu leisten. »Die Quelle und Grundlage der Stärke des Staates Israel ist die Tatsache, dass wir ein jüdischer, demokratischer, liberaler und gesetzestreuer Staat sind.« Dies bedeutete für ihn: »Wir geben dem Obersten Gericht volle Rückendeckung.«

»Das Urteil muss respektiert werden«, schreibt ebenfalls Benny Gantz, Minister in Israels Kriegskabinett, auf der Plattform X. Das Verhältnis zwischen den Autoritäten des Landes müsse geregelt werden – allerdings erst nach dem Krieg, betonte Gantz, dessen Partei jüngsten Umfragen zufolge bei einer Wahl derzeit mit Abstand stärkste Fraktion werden würde.

Anlass zur Hoffnung

Die israelische »Bewegung für eine Qualitätsregierung« spricht nach Bekanntgabe des Urteils von einem »historischen Tag«. »Dies ist ein riesiger öffentlicher Sieg derer, die für Demokratie kämpfen«, heißt es in einer ersten Stellungnahme der Organisation. Sie hatte eine der acht Petitionen gegen die im Juli im Parlament verabschiedete Grundgesetzänderung eingereicht.

»Die Entscheidung enthält eine implizite ›Ewigkeitsklausel‹ für das israelische Verfassungsrecht«, bewertet Barak Medina das Urteil. »Sie verbietet es der Regierung, ihren Plan für eine Justizreform in Kraft zu setzen, zumindest nicht mit der knappen Mehrheit, die sie in der Knesset genießt«, so der Professor an der juristischen Fakultät der Hebräischen Universität in Jerusalem. Somit habe der Oberste Gerichtshof gemeinsam mit der Protestbewegung die israelische Demokratie gerettet. »Das bietet in diesen schwierigen Zeiten in Israel zwar nur wenig Trost. Aber diese Entwicklung gibt dennoch Anlass zur Hoffnung, dass bald wieder bessere Tage in das unruhige Land zurückkehren könnten.«

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