Meinung

Herzzerreißende Horrorshow

Jedes Mal, wenn eine Geiselbefreiung ansteht, ist die Anspannung in Israel kaum zu ertragen. Tage zuvor wird gemunkelt, wer es sein könnte, welche Familie ihren Liebsten endlich umarmen und nach mehr als einem Jahr der schier unerträglichen Qualen wieder Hoffnung schöpfen kann.

Doch mit jeder Befreiung zählt man auch, wie viele Menschen noch in Gaza festgehalten werden. Überlegt, wer wahrscheinlich noch am Leben ist und wer es vielleicht leider nicht geschafft hat, die Hölle zu überstehen. Es ist das grausamste Rätselraten der Welt.

Trotz des Freiheitsentzugs, des Hungers, der Folter und katastrophalen Umstände, unter denen alle Geiseln in der Gewalt der Hamas leiden mussten und noch müssen, muteten einige Freilassungen doch an wie ein Happy End.

Es wurde umarmt, gelacht und gesungen. Die befreite Daniella Gilboa bekam einen Heiratsantrag von ihrem langjährigen Freund, Liri Albag stellte sich als außergewöhnlich couragierte junge Frau heraus, die sogar manchen Terroristen mit ihrem Charisma etwas entgegen setzen konnte.

Es erschienen drei fast verhungerte Männer

Geschichten, bei denen die gesamte Nation nach einem extrem schweren Jahr wieder ein wenig aufatmen und nach vorn blicken konnte. Doch nicht gestern. Da erschienen plötzlich drei fast verhungerte Männer auf den Bildschirmen. Völlig verängstigt und wackelig auf den Beinen.

Die Jubelschreie blieben den Israelis beim Anblick ihrer gequälten Landsleute im Halse stecken. Stattdessen schlugen sie vor Entsetzen die Hände vor die Münder und Augen. »Sie sehen aus wie Holocaust-Überlebende«, raunte das ganze Land.

Lesen Sie auch

Doch damit nicht genug. Ohne jegliches menschliche Mitgefühl wurden Ohad Ben Ami, Eli Sharabi und Or Levy von vermummten schwer bewaffneten Terroristen auf einer Bühne im Zentrum von Gaza vorgeführt. Diese Menschen, die eben aus den Terrortunneln und Folterkammern der Hamas gekommen waren, mussten sich bei ihren Peinigern »für die gute Behandlung bedanken« und auf die israelische Regierung schimpfen.

Zwei der Männer wussten auf der Bühne noch nicht, dass ihre allerwichtigsten Familienmitglieder jenseits der Grenze nicht auf sie warten. Dass ihre Welt für immer zerstört ist. Eli Sharabis Ehefrau Lianne und die beiden Töchter, die 16-jährige Noya und die 13-jährige Yahel, wurden am 7. Oktober von der Hamas in ihrem Haus im Kibbuz Be’eri ermordet. Or Levys Frau Eynav, Mutter des gemeinsamen Söhnchens Almog, starb auf dem Nova-Festival.

Ohad Ben Amis Mutter sah die Befreiung ihres Sohnes im Fernseher. Foto: Copyright (c) Flash 90 2025

Doch die Menschen an den Bildschirmen wussten es. Und wem beim Anblick der traurigen Augen dieser Männer in den abgemagerten Gesichtern nicht das Herz in tausend Stücke zerschmetterte, der hat wahrscheinlich keins.

Sogar das Rote Kreuz kritisierte die Zurschaustellung der Menschen

Die Horrorshow, die die Hamas inszenierte, ließ das Blut in den Adern gefrieren. War es schockierend? Ja! War es überraschend? Nein!

Hamas ist eine menschenverachtende Terrororganisation, die davon lebt, dass andere gequält werden. Spätestens seit dem 7. Oktober 2023 weiß die ganze Welt, wozu sie in der Lage ist. Wer trotzdem eine Erinnerung brauchte, der bekam sie am Samstag. Sogar das Rote Kreuz, das seit dem 7. Oktober von israelischer Seite vielfach kritisiert wurde, prangerte die Zurschaustellung der fragilen Menschen an und forderte, bei weiteren Freilassungen die Wahrung der »Würde und Privatsphäre der Geiseln«.

Es braucht nun nicht nur weitere Bekundungen, wie grausam die Terroristen sind und wie furchtbar alles ist. 76 unschuldige Menschen sind weiterhin in ihrer Gewalt und schweben in akuter Lebensgefahr. Noch können viele von ihnen gerettet werden.

Deshalb braucht es jetzt Taten! Um genau zu sein eine Tat. Die, das Abkommen umzuwandeln und alle Geiseln auf einmal aus der Hölle herauszuholen. Der Kampfesruf für ihre Befreiung »Kulam ach’schaw – alle jetzt!« gilt in diesen Tagen mehr denn je. Denn ein Happy End nach der Hölle der Hamas – das haben wir spätestens am Samstag gesehen – rückt mit jedem Tag, der verstreicht, in noch weitere Ferne.

Die Autorin ist Israel-Korrespondentin der Jüdischen Allgemeinen

Gaza

Neue Aufnahmen: Geiseln feierten vor ihrer Ermordung Chanukka

Carmel Gat, Eden Yerushalmi, Hersh Goldberg-Polin, Ori Danino, Alexander Lobanov und Almog Sarusi feiern im Terrortunnel das Lichterfest. Einige Monate später werden sie von palästinensischen Terrroristen ermordet

 12.12.2025

London

Nach 26 Monaten: Amnesty wirft der Hamas Verstöße gegen das Völkerrecht vor

Die Organisation brauchte viel Zeit, um bekannte Tatsachen zu dokumentieren. Bisher hatte sich AI darauf konzentriert, Vorwürfe gegen Israel zu erheben

von Imanuel Marcus  12.12.2025

Nahost

USA verlangen von Israel Räumung der Trümmer in Gaza

Jerusalem wird bereits gedrängt, im Süden der Küstenenklave konkrete Maßnahmen einzuleiten

 12.12.2025

Meinung

Nemo unverbesserlich

Nemo gibt mit Rückgabe der ESC-Siegertrophäe auch Haltung ab. Statt Rückgrat zu zeigen, schwimmt das Schweizer Gesangswunder von 2024 im postkolonialen Strom mit

von Nicole Dreyfus  12.12.2025

Andrea Kiewel

Ein Weltwunder namens Regen

Jedes Jahr im Dezember versetzt der Regen die Menschen in Israel in Panik - dabei ist er so vorhersehbar wie Chanukka

von Andrea Kiewel  11.12.2025 Aktualisiert

Unwetter

Wintersturm »Byron« fordert zwei Tote

Der Sturm »Byron« hält an. Regenfälle und starke Winde kosten einem Kind im Gazastreifen und einem 53-Jährigen in Israel das Leben

 11.12.2025

Gazastreifen

»Ein Arzt injizierte ihr Luft«

Der Vater der von der Hamas am 7. Oktober 2023 nach Gaza verschleppten israelischen Soldatin Noa Marciano beschuldigt einen Arzt im Al-Schifa-Krankenhaus, seine Tochter ermordet zu haben

 11.12.2025

Waffenruhe

Hamas-Auslandschef: Waffen abgeben wäre wie Seele verlieren

Khaled Meshaal widerspricht in einem Interview den Kernforderungen von US-Präsident Trump und Ministerpräsident Netanjahu

 11.12.2025

Interview

»Ein jüdischer Film braucht keinen jüdischen Regisseur«

Leiterin Daniella Tourgeman über das »Jerusalem Jewish Film Festival«, eine Hommage an israelische Krankenschwestern und Boykottaufrufe in der Kunstwelt

von Joshua Schultheis  11.12.2025