Interview

»Gefühle sind für politische Bewegungen zentral«

Experte für die Geschichte Israels und des Zionismus: Historiker Derek Penslar Foto: Ilene Perlman

Interview

»Gefühle sind für politische Bewegungen zentral«

Der Historiker Derek Penslar über Emotionen im Zionismus und das moderne Israel

von Derek Penslar, Israel, Till Schmidt, Zionismus  17.06.2023 23:09 Uhr

Herr Penslar, in Ihrem neuen Buch »Zio­nism: An Emotional State« analysieren Sie den Zionismus durch eine emotionsgeschichtliche Perspektive. Warum haben Sie diesen Ansatz gewählt?
In gewisser Hinsicht ging es mir darum, ein Phänomen in den Blick zu nehmen, dessen ich mir schon mein ganzes Leben bewusst war. Denken Sie zum Beispiel daran, wenn jemand aus der Diaspora zum ersten Mal nach Israel kommt: Er oder sie ist in der Regel überwältigt von positiven Gefühlen wie Stolz und Ehrfurcht. Dem vorangegangen ist meist eine bestimmte zionistische Bildung, die ebenfalls eine emotionale Schicht in sich trägt. Gleichzeitig sind Emotionen natürlich auch für andere nationale und politische Bewegungen zentral.

Ein Buch zu schreiben, ist ein faszinierender, schöner, oft auch nervenaufreibender Prozess. Wie erging es Ihnen?
Gerade die Primärquellen haben mich fasziniert. So etwa die Zeitungsartikel, in denen US-amerikanische Jüdinnen und Juden sich Sorgen machen, dass Israel im 1948er-Krieg zerstört wird. Da habe ich die emotionale Kraft dieses historischen Moments gespürt. Bei der Beschäftigung mit der allgemeinen Emotionsforschung hatte ich das Gefühl, über viele Jahre etwas vernachlässigt zu haben.

Das klingt so, als hätte sich das Buchprojekt durchgängig von Ihrem Enthusiasmus genährt.
Natürlich gibt es auch emotionale Tiefpunkte. Ein Freund von mir hat das Schrei­ben eines Buches einmal damit verglichen, mit einem Oktopus zu ringen. Nach der Fertigstellung bist du erschöpft und fürchtest: Nie im Leben werde ich eine Idee für ein weiteres Buch haben. Und gerade die Kapitel zu Furcht und zu Hass, über Menschen, die den Zionismus, Israel und meist auch die Juden hassen, waren für mich aufwühlend – obwohl ich zu diesem Thema seit Langem als Wissenschaftler arbeite und auch als Jude direkt davon betroffen bin. Schmerzhaft war es, darüber zu schreiben, dass auch Zionismus zu Hass ermutigt, auf die Briten etwa oder auf Araber.

Geht es Ihnen ähnlich, wenn Sie zu einem Ihrer Forschungsschwerpunkte, der Ideengeschichte des frühen Zionismus im 19. Jahrhundert, arbeiten?
Das ist anders. Denn damals war der Zio­nismus noch eine theoretische Vision, eine Idee, die weit weg von Palästina in Europa entwickelt, durchdacht und diskutiert wurde. Das Israel von heute aber ist Wirklichkeit – eine vielfach beunruhigende Wirklichkeit. Zudem gab es im frühen Zio­nismus häufig eine gewisse Offenheit im Verhältnis zu den Arabern. Man blickte auf sie aus einer eher optimistischen, immer wieder auch naiven bis bevormundenden Perspektive, die von einer gemeinsamen Zukunft von Juden und Arabern träumte. Viele frühe Zionisten hatten die Vorstellung, dass sie den Arabern etwas anzubieten hatten, zum Beispiel im technologischen Bereich. Im Umkehrschluss würden sie dann mehr als willkommen geheißen.

Warum provozieren der Staat Israel und auch historisch schon die zionistische Bewegung so viel Leidenschaft und Emotionen?
Nur wenige Menschen haben keine Meinung zu Israel. Das ist anders als bei, sagen wir: dem Kaschmirkonflikt. Einzigartig am Hass auf Israel sind seine Lautstärke und die Allgegenwärtigkeit. Die naheliegendste Erklärung dafür ist natürlich der über Jahrhunderte gewachsene Antisemitismus. Doch stellen Sie sich vor, Israel wäre, wie von Theodor Herzl zeitweise vorgeschlagen, in Argentinien gegründet worden und wäre auch dort in einem Konflikt mit der ortsansässigen Bevölkerung gestanden. Wäre die internationale Gemeinschaft dann auch so fixiert auf den jüdischen Staat?

Wohl kaum.
Der Ort ist in meinen Augen ein weiterer wesentlicher Faktor: mitten im Nahen Osten gelegen, in einer Region, die dem Kolonialismus und anderen Formen der Unterdrückung unterworfen war; im heiligen Land für Juden, aber auch seit 2000 Jahren für Christen und spätestens seit den Kreuzzügen auch für Muslime. Die Zionisten haben sich einen Ort ausgesucht, dem es inhärent ist, Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen.

Bereits im 19. Jahrhundert zeichnete sich der Zionismus durch eine starke Vielfalt aus. So etwa hinsichtlich der Vorstellungen von Staatlichkeit, dem Verhältnis von Religion und Staat oder in Bezug auf die ersehnte Transformation. Was war – und ist – der kleinste gemeinsame Nenner?
Wie der verstorbene israelische Schriftsteller Amos Oz geschrieben hat, ist Zionismus ein Familienname – mit vielen Vornamen. Was sie alle zusammenhält, ist der Glaube an ein jüdisches Volk, das nicht nur eine Verbindung zu Eretz Israel hat, sondern auch das historische Bedürfnis und das moralische Recht auf Selbstbestimmung vor Ort. Das alles kann dann verschiedene Formen annehmen – stärker kulturell oder politisch, in Bezug auf den Umfang des Territoriums oder die Staatsform. Die verschiedenen Ausprägungen des Zionismus können sehr gegensätzlich sein.

Aktuell gehen in Israel Zehntausende Bürgerinnen und Bürger auf die Straße, um als Patrioten eine liberale Gesellschaft zu verteidigen. Von der Gegenseite wird ihnen vorgeworfen, »Verräter« zu sein – und ihnen dadurch abgesprochen, zur Gemeinschaft der Israelis zu gehören. Was bedeutet das?
Hier offenbart sich, dass der Zionismus in viele Strömungen geteilt ist. Seine eben erwähnte, allgemeine Definition schafft es nicht, den Menschen ein tatsächlich vereinigendes Gefühl zu geben. Aktuell stehen sich in Israel zwei verschiedene Visionen von Staat und Gesellschaft gegenüber. Das ist ein inniger Familienstreit, Geschwisterrivalität mitsamt machtvoller Emotionen wie Eifersucht, Neid und Hass. Da der Konflikt innerhalb der Familie bleibt, sind die Araber an diesem Disput nicht beteiligt. Mit wenigen Ausnahmen werden weder die Besatzung noch die Situation der palästinensischen Bürger Israels in den Protesten erwähnt. Wie bei Geschwistern ist man in Israel so sehr damit beschäftigt, gegeneinander zu kämpfen, dass der Blick auf das Gemeinsame verloren geht. Ich bin wirklich sehr besorgt über die Situation, mir ist aber auch bewusst, dass es Geschichten mit gutem Ende gibt: in denen sich Geschwister nach einer großen Krise wieder versöhnen. David Ben Gurion hatte es in den 50ern und 60ern geschafft, einen jüdischen Staat zu schaffen, der, um im Bild zu bleiben, liberale und ethnische Familienkonzepte zusammenbrachte.

Lässt sich an das Erbe aus dieser Zeit so einfach anknüpfen? Immerhin ist die historische Diskriminierung der Mizrahim zu dieser Zeit ein zentrales Thema des israelischen Rechtspopulismus.
Das Ressentiment vieler Mizrahim gegen Aschkenasim ist eine weitere emotionale Angelegenheit. Sie wurzelt in der historischen Wirklichkeit der 50er- und 60er-Jahre, als auf die aus Nordafrika und dem Nahen Osten stammenden Juden heruntergeschaut wurde, sie massive Diskriminierung erleiden mussten. Ihre soziale Position hat sich inzwischen aber erheblich verbessert, so etwa hinsichtlich ihrer Repräsentation und Bedeutung in der Wirtschaft, in der Politik und auch in der populären Kultur. Ich denke, die nach wie vor existierenden Probleme – wie etwa der unzureichende Zugang zu höheren Positionen an Universitäten oder auch am Obersten Gericht – lassen sich vor allem durch eine umfassende staatliche Politik der Anerkennung lösen. Wenn Zugangsmöglichkeiten in alle Bereiche der israelischen Gesellschaft geschaffen werden, dann dürfte das Ressentiment geringer werden. Sofern es jedoch nicht – wie von der aktuellen Regierung – von oben herab befeuert und strategisch zur Spaltung der Gesellschaft eingesetzt wird.

In Ihrem Buch stellen Sie eine umfängliche Taxonomie des Zionismus vor. Welchen Typ sollten wir uns heute – in Zeiten von zunehmendem Autoritarismus, fundamentalistischer Identitätspolitik und einem weit verbreiteten Antizionismus – besonders in Erinnerung rufen?
Beim »transformativen« Zionismus geht es nicht nur darum, einen Staat zu schaffen, sondern auch einen besseren Menschen. Demzufolge können Jüdinnen und Juden durch ihren eigenen Staat ein Niveau des psychischen Wohlergehens erreichen, das sich von dem in der Diaspora grundlegend unterscheidet: Sie sollen authentischer, unversehrt, verankert, stark und unabhängig sein. Ihr Leben soll von Normalität gekennzeichnet sein. Diese Ideen haben das Potenzial, in einen falschen Weg zu münden. Genauso aber können sie in eine richtige, progressive Richtung weisen.

Mit dem amerikanisch-kanadischen Historiker und Autor sprach Till Schmidt.

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