Proteste

»Für soziale Gerechtigkeit«

Die Worte muss er noch üben. Statt über Liebe und Frieden zu sinnieren, schlägt Superstar David Broza mit seiner Gitarre kritische Töne an. Voll Inbrunst singt er über die soziale Ungerechtigkeit in seinem Land. Sein Freund, der Dichter und Schriftsteller Jonathan Geffen, schrieb ihm angesichts der Proteste in Israels Städten neue Zeilen zu seinem Hit »Jihieh Tow«. Was so viel heißt wie »Alles wird gut«.

Eine immer größer werdende Solidaritätswelle erreicht die Demonstranten im ganzen Land. Es sind nicht nur die jungen Leute in zu teuren Wohnungen, die nach einem sozialeren Staat rufen. Auch Ärzte, Lehrer, Landwirte und viele Künstler protestieren. Jetzt haben sich sogar die Stadtverwaltungen angeschlossen. Säkular und religiös, alt und jung, jüdisch und arabisch. Am letzten Samstagabend demonstrierten mehr als 150.000 Menschen auf Israels Straßen gegen das teure Leben.

ungerechtigkeit Manche schieben Kinderwagen vor sich her, andere halten selbstgemalte Parolen über ihre Köpfe. Leute, die im Alltag unterschiedlicher nicht sein könnten: Männer mit gehäkelten Kippot auf dem Hinterkopf, daneben Lebenskünstler mit Rastalocken. Programmierer in Designerschick und Sozialarbeiter mit Gesundheitslatschen. Im Widerstand gegen die soziale Ungerechtigkeit scheint Israels Gesellschaft einig zu sein. Seit’ an Seit’ pfeifen sie, skandieren und johlen. Vor dem Tel Aviv Museum findet die zweitgrößte Demonstration statt, die das Land je gesehen hat.

In Jerusalem sind 10.000 Leute auf den Beinen. Der Schriftsteller David Grossman sagt: »Die Menschen sind dem Staat loyal gegenüber, aber der Staat zeigt seinen Bürgern keine Loyalität.« In Haifa demonstrieren mehr als 12.000 und in vielen anderen Städten jeweils einige Hundert. In Nazareth Illit ziehen Araber und Juden gemeinsam gegen die astronomischen Immobilienpreise los, die allein im letzten Jahr um 16 Prozent gestiegen sind.

selbstbewusstsein »Ich bin hier, weil ich so nicht mehr weitermachen will. Immer im Minus«, schreit ein junger Mann und schwenkt sein Plakat mit dem hebräischen Bet im Dreieck, dem Zeichen der Gruppe für soziale Gerechtigkeit um Daphni Leef. Die 25-jährige Filmemacherin aus Tel Aviv stieß an, was gerade geschieht. Nun wird das Wort »Revolution« nicht mehr nur gehaucht, sondern mit wachsendem Selbstbewusstsein aus vollem Halse durch die Straßen geschrien.

Leefs wütender Appell auf Facebook, dass sie es satt habe, immer mehr Miete zu zahlen, und der Aufbau ihres Zeltes auf dem Rothschild-Boulevard waren nur der Anfang. Es folgten Hunderte, dann Tausende. Hauptsächlich ist es ein Aufstand der Mittelklasse, der Familien, in denen beide verdienen und die trotzdem auf keinen grünen Zweig kommen. Die Lebenshaltungskosten sind im Vergleich zu denen in Europa immens hoch, während die Gehälter mindestens ein Drittel darunter liegen.

»Angeblich geht es der israelischen Wirtschaft ja so gut, wie die Politiker nicht müde werden zu betonen. Nur haben wir davon nichts. Im Gegenteil, alles wird ständig teurer, Wohnen, Essen, Kinderbetreuung, Benzin. Es ist völlig verrückt. Selbst mit gut bezahlten Jobs müssen wir uns einschränken, können nicht einen Pfennig zurücklegen. Kurz, wir zahlen uns dumm und dämlich. Und davon haben wir die Nase voll. Wir wollen endlich, dass etwas bei uns ankommt, nicht nur bei den großen Bossen«, erklärt Demonstrant und Familienvater Ran Tzanany.

existenzminimum Die israelischen Ärzte sind schon lange dort, wo die Demonstranten dieser Tage sind. »Am Rande des Existenzminimums und mit den Nerven am Ende«, wie es Krankenhausarzt Gil Cohen beschreibt. Gegen die lächerlich geringen Gehälter und Schichten von 24 und mehr Stunden gehen die Mediziner des Landes bereits seit Monaten auf die Straßen.

Jetzt haben sich mit den Tel Aviver Protestlern zusammengetan. Aus Jerusalem kommt dazu nicht ein Sterbenswörtchen. »Premier- und Gesundheitsminister Benjamin Netanjahu – wo sind Sie?«, fragte der Präsident des israelischen Ärzteverbandes, Leonid Eidelman, wiederholt. Die Antwort gab er sich nach 128 Tagen des Protestes selbst und trat in den Hungerstreik.

Was die Demonstranten vor dem Museum vom Regierungschef halten, zeigen sie unmissverständlich und unüberhörbar: »Bye-bye, Bibi, bye-bye!«. Meist jedoch tönt ein anderer, bedeutungsschwerer Satz durch die schwüle Nacht: »Ha’am doresch zedek chevrati!« Das Volk verlangt soziale Gerechtigkeit. Manche hängen ein »achschaw« dran, »jetzt«.

Auch die Redner und Künstler auf der Bühne stimmen ein. Hier gibt sich alles die Ehre, was im Musikbusiness Rang und Namen hat, darunter Berry Sakharoff und Aviv Geffen, der, von Gitarrenriffs begleitet, herausbrüllt: »Wir wollen den Wandel.«

Es hat ein bisschen etwas von Volksfeststimmung, die Atmosphäre ist positiv aufgeheizt, Kinder spielen um die Beine ihrer Eltern Verstecken, fremde Menschen liegen sich plötzlich in den Armen, immer wieder den einen Satz auf den Lippen. Manchmal klingt es so, als wäre »zedek chevrati« just in dieser Nacht erfunden worden. Träume vom besseren Leben, vom lohnenderen, verklären manch einem den Blick.

Von der Regierung schaut niemand in Tel Aviv vorbei, wahrscheinlich würde keine Faule-Eier-Ladung der Welt für diesen geballten Unmut ausreichen. Dafür sprechen Oppositionspolitiker, darunter Nitzan Horowitz von Meretz. Viele andere lassen durch die Medien verkünden, dass sie aufseiten der Protestanten sind. Am Montag gibt sogar ein Großteil der Stadtverwaltungen bekannt, dass sie sich solidarisieren und einen Tag lang streiken.

Finanzminister Yuval Steinitz warnte kurz vorher, die Proteste gegen die hohen Lebenshaltungskosten könnten zu einer Wirtschaftskrise wie in den USA und zur Anarchie führen. Am Tag darauf tritt sein Generaldirektor Haim Shani zurück, Hunderttausende Israelis zeigen Steinitz die rote Karte. Zwar kündigt Netanjahu an, mehr sozialen Wohnraum zu schaffen, friert sogar die weitere Erhöhung der Benzinpreise für einen Monat ein, doch alles wirkt halbherzig und kalkuliert.

forderungen Die Organisatoren der Protestaktion geben sich derweil überraschend organisiert. Dienstagfrüh sind ihre Forderungen schriftlich fixiert: »Mehr sozialer Wohnbau, Mietkontrolle, bezahlbare Wohnungen. Eine Anhebung des Minimallohnes (auch für Polizisten, Sozialarbeiter und Feuerwehrleute). Kostenlose Unterbringung von Kindern ab drei Monate, Reduzierung der Klassen auf OECD-Status. Mehr Ärzte und Krankenschwestern, mehr Krankenhausbetten, auch hier Anhebung auf OECD-Niveau.«

Eine Antwort der Regierung steht aus. Bislang schweigt Netanjahu. Er habe Angst, meinen viele. »Und allen Grund dazu«, betont Fernsehkommentator Ofer Schelach. »Niemand kann wissen, wohin uns die Reise führt, klar ist nur, dass kein israelischer Politiker diese Entwicklung jemals wieder ignorieren kann.« Das glaubt auch David Broza, während er zwischen den Zelten umherspaziert, »weil ich sehe, was diese jungen Leute auf die Beine stellen. Es geht hier um etwas – nicht mehr nur um iPhones und Internet«.

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