Viele von uns fragen sich: Wie können wir Frieden und Zusammenhalt in unserer jüdischen Gemeinschaft bewahren, wenn wir so verschiedene Meinungen haben? Genau das scheint mir eine unserer wichtigsten Herausforderungen und Aufgaben heute zu sein – in der Familie, in den Gemeinden, im Volk Israel und in der Welt.
Die Antwort klingt einfach, auch wenn sie nicht einfach in Taten umzusetzen ist: Wir müssen nicht in allen Fragen einer Meinung sein. Doch wir können lernen, so miteinander zu reden, dass wir den Frieden und die Einheit bewahren – auch wenn wir in der Sache uneins sind.
Der Krieg im Nahen Osten hat tiefe Risse verursacht. Viele verschanzen sich in ihren Echokammern – in WhatsApp-Gruppen und E-Mail-Verteilern, in Algorithmen, die nur die eigene Haltung verstärken: »Meine Wahrheit« gegen »deine Wahrheit«, »mein Narrativ« gegen »dein Narrativ«. Das ist allgemein ein Problem, das die Gesellschaft weltweit auseinanderdriften lässt. Doch dass sich dies auch so deutlich innerhalb der jüdischen Gemeinschaft abzeichnet – das bereitet mir Sorgen.
Wir können lernen, so zu reden, dass wir den Frieden und die Einheit bewahren.
Aus unserer Geschichte wissen wir leider nur zu gut, wohin Widerspruch und Streit innerhalb des Volkes führten. Unsere Weisen lehren, dass grundloser Hass zur Zerstörung des Zweiten Tempels geführt hat. Auch in unserer Gegenwart hat die innere Krise Israels vor dem 7. Oktober 2023 gezeigt, wie gefährlich innere Zerrissenheit ist.
Zuhören genauso wichtig wie Sprechen
Um nicht missverstanden zu werden: Meinungsverschiedenheiten sind seit jeher ein Markenzeichen, eine Stärke unseres Volkes. Der Talmud ist voller konstruktiver Streitgespräche. Doch wenn ein Disput destruktiv geführt wird, wenn er nach außen getragen und vergiftet wird, dann kann er zu einer Schwäche werden. Jene, die uns böse gesinnt sind, warten lediglich darauf, diese Risse auszunutzen, um uns weiter zu spalten und anzugreifen.
Umso wichtiger ist es, dass wir uns als Gemeinde, als ein Volk mit einem Herzen verstehen. Nicht als Floskel, sondern als Einheit. Doch was bedeutet diese Einheit in so vielfältigen Gemeinschaften wie die unseren? Zum einen bedeutet Einheit nicht Gleichförmigkeit. Einheit bedeutet auch nicht, dass wir alle genau das Gleiche denken, fühlen oder tun müssen. Es geht vielmehr um das Prinzip der »Einheit in Vielfalt«.
Zum anderen – wie Rabbiner Jonathan Sacks in seinem Buch »One People« betonte – ist Einheit in Vielfalt aber nicht zu verwechseln mit einem absoluten Pluralismus, in dem »anything goes«. Um den inneren Frieden zu wahren, muss man nicht auf die eigene Wahrheit verzichten und davon ausgehen, dass jede Meinung gleich richtig ist.
Wir können hoffen, dass sich die Lage endlich zum Guten wendet, im Wissen, dass der Weg dorthin lang und steinig wird.
Man kann seine Überzeugung klar vertreten und sich für sein Verständnis von Gerechtigkeit einsetzen – aber im Umgang mit anderen bleiben wir im Respekt und suchen das friedliche Gespräch. Dabei ist Zuhören genauso wichtig wie Sprechen. Wir können zusammenarbeiten, wo es möglich ist. Kompromisse schließen, wo es nötig ist. Und wenn Wege auseinandergehen – dann in Frieden.
Extreme verunmöglichen das Miteinander
Natürlich gibt es auch rote Linien: Ich spreche von extremistischen Positionen – etwa der Leugnung des Existenzrechts Israels, BDS-Unterstützung, Genozidbehauptungen oder der Verherrlichung von Gewalt, sei es durch radikale arabische oder jüdische Gruppen, die zur Vertreibung oder gar Vernichtung der jeweils anderen Seite aufrufen. Solche Haltungen machen echten Dialog und gemeinschaftliches Miteinander nahezu unmöglich.
Trotzdem bin ich überzeugt: Die große Mehrheit unseres Volkes vertritt weder das eine noch das andere Extrem. Gerade deshalb sollten wir als jüdische Gemeinschaft und in den jüdischen Gemeinden eine klare Haltung zeigen – eine unmissverständliche Grenze gegenüber solchen Positionen ziehen. Wir dürfen für Einzelpersonen oder Gruppen, die solche Ansichten vertreten oder sich nicht deutlich davon distanzieren, keine Bühne bieten.
Selbst wenn wir unterschiedliche Meinungen zur Politik der israelischen Regierung vertreten – so hoffe ich doch sehr, dass uns alle die gemeinsame Sorge um Israels Sicherheit, Wohlergehen, Zukunft und Platz in der Welt eint.
Momente der Zuversicht und Hoffnung
Die vergangenen Monate waren eine emotionale Achterbahnfahrt. Wir spürten tiefe Sorge um die verbliebenen Geiseln und sorgen uns immer noch um die toten Geiseln, die noch nicht freigelassen sind. Wir sind erschüttert über den weltweiten Anstieg des Judenhasses. Wir trauern um das Leid und die Opfer innerhalb Israels. Und zugleich – denn es ist kein Entweder-oder – können wir auch Mitgefühl für die unschuldigen Menschen, die auf palästinensischer, arabischer oder iranischer Seite unter den tragischen Folgen dieses Krieges leiden, empfinden. Ihr Leid wird leider oft von ihren eigenen Machthabern zynisch instrumentalisiert – aber es bleibt menschliches Leid, das uns nicht gleichgültig lässt.
Es gab im vergangenen Jahr und vor allem in den vergangenen Tagen auch Momente der Hoffnung und der Zuversicht: Nach der Freilassung der lebenden Geiseln und nachdem der Krieg jetzt hoffentlich zu Ende ist. Endlich können wir aufatmen!
Diese Gefühle verbinden viele von uns – auch wenn wir politisch nicht immer übereinstimmen. Aber wir können hoffen und beten, dass sich die Lage endlich zum Guten wendet, im Wissen, dass der Weg dorthin noch lang und steinig wird.
Wie wir an Rosch Haschana G›tt gebeten haben, uns mit Gerechtigkeit und Barmherzigkeit zu beurteilen, so sollten auch wir einander begegnen. So sollten wir im neuen Jahr auch die Kraft finden, unsere Überzeugungen klar zu vertreten – und gleichzeitig neue Brücken zu bauen, wo Gräben entstanden sind. Und wir sollten einander zuhören, auch dann, wenn wir nicht einer Meinung sind. Mögen wir als »Am Echad BeLev Echad« – ein Volk mit einem Herzen – füreinander einstehen, trotz und gerade wegen aller Unterschiede. Mit Klarheit und mit Respekt.
Der Autor ist Rabbiner der Israelitischen Cultusgemeinde Zürich