Pünktlich zum Sommeranfang machte der makabre Slogan die Runde: »Stell dir vor, es ist Sommer – und es gibt keinen Krieg.« Er beschreibt die Stimmung der Israelis, wenn die Ferienzeit naht. Zu sehr sind sie an Kriege und militärische Auseinandersetzungen mit ihren unmittelbaren Nachbarn gewöhnt. Und zu oft fanden diese gerade in der Zeit statt, die eigentlich zum Erholen und Urlaubmachen gedacht ist. Doch der Sommer 2016 scheint anders – fast normal.
Vor zwei Jahren tobte der Krieg zwischen der Hamas im Gazastreifen und Israel, der Großstädte wie Aschdod, Aschkelon und sogar Tel Aviv zeitweise zu Geisterstädten machte. Die Raketen flogen, und die Sommerferien der meisten Kinder wurden zu einem Albtraum aus Sicherheitsraum und Sirenen.
Hisbollah Manche halten die entspannten Tage unter der Augustsonne allerdings lediglich für die Ruhe vor dem Sturm. Sie sorgen sich vor allem wegen des andauernden Bürgerkriegs in Syrien und der Hisbollah im Libanon. Deren Anführer Hassan Nasrallah droht seit Wochen lautstark, es gebe »kein Ziel in Israel, das wir nicht treffen können«. Andere allerdings sehen darin bloßes Säbelrasseln im Sommerloch.
Am Tel Aviver Strand erinnert die Atmosphäre auf den ersten Blick in nichts an die Bedrohung aus dem Norden. Tagsüber lümmeln sich Menschen aus dem In- und Ausland träge auf den Liegestühlen und planschen in den Fluten, am Abend spazieren sie auf der neu designten Promenade, genießen kühle Getränke oder schauen sich die Wettkämpfe in Rio auf einer der Großleinwände an, die Bars im Sand aufgebaut haben. Das Meeresrauschen ist inklusive.
gewalt »Jetzt ist Olympia. Da schießen die Palästinenser keine Raketen«, spöttelt ein Junge aus einer Gruppe von Zwölftklässlern, die sich schon um neun Uhr abends im Banana Beach niedergelassen haben, um das Hundertmeter-Rennen der Männer mitten in der Nacht zu sehen. »Stimmt, die Hamas sitzt versammelt vor der Glotze«, ruft ein anderer, und alle lachen.
Noch immer gibt es mit trauriger Regelmäßigkeit Schreckensnachrichten über Terroranschläge. Doch fast immer können die Attacken vereitelt werden. Der Höhepunkt der mehr als neun Monate andauernde Messer-Intifada, die 48 Israelis das Leben kostete, scheint vorüber zu sein. Das glauben zumindest die meisten Politik- und Sicherheitsexperten. Der ehemalige Verteidigungsminister Mosche Yaalon erklärte kurz vor seinem Abschied, dass sowohl die israelische Armee als auch die Palästinensische Autonomiebehörde zum Abklingen der Gewalt beigetragen hätten.
Viele, die dem Terror entkommen wollten, hatten schon vor Wochen Reisen ins Ausland gebucht. Siv Rosen, Chef der Reiseagentur »Gulliver«, weiß, wohin es am liebsten geht. Da nach den jüngsten Anschlägen und dem Putschversuch die Türkei mehr als zuvor vom Reiseplan der Israelis verschwunden ist, ziehe es sie in neue Gefilde. »Zum Sonnenbaden geht es nach Griechenland oder an andere Orte rund ums Mittelmeer.« Fernreisen werden weniger gebucht. »Doch stark im Kommen ist auch Osteuropa, zum Beispiel Rumänien, Ungarn und Polen.«
Derweil sind Eltern, die nicht verreisen, mit alltäglichen Sorgen beschäftigt. Wohin mit den Kleinen, wenn Schulen und Kindergärten geschlossen und die Ferienlager beendet sind? Generell gibt in den letzten beiden Augustwochen keinerlei organisierte Betreuung. Viele Angestellte haben allerdings nur zwei bis drei Wochen Urlaub im Jahr und können keine Reisen machen.
Großeltern, Freunde und Nachbarn helfen bei manchen aus. Doch andere müssen Babysitter bestellen, und das kostet Geld. Manche nehmen ihren Nachwuchs mit schlechtem Gewissen mit ins Büro. Doch das ist bei israelischen Arbeitgebern meist nicht gern gesehen. Betriebliche Kindergärten gibt es so gut wie gar nicht.
Stacey Cohen ist vor drei Jahren aus den USA eingewandert und hat ihr neues Zuhause in Modiin gefunden. Die Familie hat drei Kinder, Stacey hat immer gearbeitet. »In Amerika gibt es in jeder großen Firma einen Hort für Kleinkinder, damit die Eltern nicht in Schwierigkeiten kommen, wenn die Kindergärten zu sind. Das vermisse ich wirklich an der alten Heimat. Hier muss ich immer meine Freunde bitten, mir zu helfen. Das wird aber spätestens beim dritten Mal lästig. Ich wünsche mir, dass sich in dem sonst so kinderfreundlichen Israel in dieser Hinsicht etwas ändert.«
politik Es ist auch der Sommer der Spekulationen. Wie geht es politisch weiter, wenn das Parlament wieder an die Arbeit geht, fragen sich viele. Kurz vor Schluss waren noch einige umstrittene Gesetzesvorschläge eingebracht worden, etwa der, eine Siebenprozenthürde in der Knesset einzuführen. Auch der Haushalt für die Jahre 2017 und 2018 ist in letzter Minute mit einem Rekordbetrag von 359,7 und 367 Milliarden Schekel (umgerechnet etwa 83,7 und 85,3 Milliarden Euro) verabschiedet worden. Die Beträge liegen damit nahezu 100 Prozent über dem maximal erlaubten Steigerungssatz von 2,7 Prozent.
Auch wenn die Türen der Knesset momentan fest verriegelt sind, wird dahinter weiter verhandelt – vor allem um Posten und Positionen. Davon ist Naomi Chazan überzeugt. »Die meisten Zusammenkünfte, in denen über die politische Zukunft entschieden, Allianzen geschmiedet und Strategien ausgetüftelt werden, finden ohnehin in privaten Zusammenkünften hinter verschlossenen Türen statt«, schreibt Chazan, Präsidentin des College für Regierung und Gesellschaft in Tel Aviv, in ihrer Kolumne. Das sei im Sommer nicht anders.
Gibt es eine neue Mitte-Rechts-Partei unter dem Vorsitz von Mosche Yaalon? Ist Yair Lapid mit seiner Jesch Atid die einzige Alternative zum Premier? Oder wird Benjamin Netanjahu bis in alle Ewigkeit regieren? Getreu dem Sprichwort »Zwei Israelis – drei Meinungen« diskutieren die Bewohner von Nord bis Süd auch im August über ihr Lieblingsthema: die Lage der Nation. Und damit ist eigentlich alles wie immer. Fast ganz normal.