Einst lautete ihre Adresse: Frankfurt am Main. Dann wurden sie vertrieben, verfolgt, ermordet. Heute erinnern vor vielen Häusern Stolpersteine an die einstigen jüdischen Bewohner der deutschen Großstadt. Vergangene Woche trafen sich Überlebende und ihre Angehörigen auf Einladung der Initiative Stolpersteine Frankfurt am Main mit deren Mitgliedern in Tel Aviv. Der »Abend der Begegnungen« war fast wie ein Familientreffen – voller freundlicher Worte, Anteilnahme und offener Zuneigung.
»Wir hatten überhaupt nicht mit einem derart großen Andrang gerechnet«, ließ Koordinator Hartmut Schmidt die mehr als 100 Anwesenden sichtlich gerührt zur Begrüßung wissen. Vor dem Eingang des Hotelsaales hatte die Initiative eine Ausstellung zu den bereits verlegten Stolpersteinen aufgebaut. Viele verweilten, während sie ihre Fotografien suchten und sich mit anderen Gästen über Erfahrungen und Erinnerungen austauschten.
Adresse Wie Yehuda Louis Strauss, dessen Familie väterlicherseits aus Frankfurt stammte. »Der Bruder meines Großvaters führte die einzige koschere Schlachterei in der ganzen Stadt«, berichtete er nicht ohne Stolz und erinnerte sich sogar an die Adresse: »Fahrgasse 18–20.« 1939 retteten sich seine Eltern nach Argentinien. Die Stolpersteine gelten den Angehörigen, die zurückblieben und im Holocaust ermordet wurden. »Es ist wichtig, an die Menschen zu erinnern«, so Strauss in akzentfreiem Deutsch. Er selbst hatte die Reise nach Frankfurt zur Stolpersteinverlegung auf Anraten seines Arztes nicht angetreten, schickte seine beiden Söhne. Auch an diesem Abend saß Daniel Strauss am Tisch neben seinem Vater.
Die Frankfurter Initiative organisiert die Verlegung aller Stolpersteine des Künstlers Gunter Demnig in der Stadt. In ihrer Gesamtheit gelten sie mittlerweile als das größte europäische Kunst- und Gedenkprojekt. In Deutschland und 21 europäischen Ländern sind mehr als 60.000 Stolpersteine verlegt worden, in Frankfurt liegen über 1100, die meisten erinnern an jüdische Opfer. Viele der Gedenksteine sind von Nachkommen und Angehörigen der Opfer initiiert worden, der Großteil von ihnen stammt aus Israel. Der Abend und die Ausstellung wurden von der Stadt Frankfurt, der »Stiftung – Spuren – Gunter Demnig« und dem Reiseveranstalter Sar-El-Tours finanziert.
Reise Die anwesenden Schoa-Überlebenden wurden von Hartmut Schmidt einzeln vorgestellt und mit großem Applaus bedacht. Die älteste von ihnen, Dvora Spier, ist 90 Jahre alt. Vor dem Haus, in dem sie einst als Kind lebte, liegen heute 22 Stolpersteine. Eine Dame scheint Schmidt besonders ans Herz gewachsen: »Gretel Meron, die vor wenigen Tagen ihren 104. Geburtstag feierte, konnte nicht von Haifa nach Tel Aviv reisen. Also fuhren drei von uns sie besuchen – und verbrachten einen wundervollen Tag«, erzählte er.
Eine Woche lang reisten die Teilnehmer aus Deutschland durch das Land und trafen mehrere Israelis, die sie durch die Mitarbeit bei der Initiative kennengelernt hatten. Dietlinde Kosub-Jankowski gehörte zur Gruppe und war begeistert vom Programm und den Erfahrungen: »Alles zusammen ist einfach unvergesslich.« Auch Edith Erbrich war mit in Israel. Sie ist Überlebende des Konzentrationslagers Theresienstadt, in das sie deportiert wurde, weil ihr Vater Jude war. Ihre Rede in Tel Aviv berührte die Anwesenden tief. »An der Zeil 29 liegt ein Stolperstein für meinen Vater, hier kann ich ihm nahe sein.« Die Frankfurterin reist heute als Zeitzeugin durch Deutschland und hält Vorträge. Aus Dankbarkeit, dass sie den Holocaust überlebte, übernimmt sie außerdem Patenschaften für Stolpersteine.
Hoffnung Die meisten Mitglieder der Initiative kommen aus der Friedensbewegung, auch Schmidt. »Doch wir haben uns weiterentwickelt, durch die Stolpersteine viel gelernt und auch eine neue Beziehung zu Israel gewonnen. Israel und Deutschland sind durch die grauenvolle und noch immer unerklärbare Geschichte verbunden und pflegen ein partnerschaftliches Verhältnis.« Das, so Schmidt, stärke die Hoffnung auf eine friedliche Zukunft und ein Zusammenleben der Völker. Der deutsche Botschafter in Israel, Clemens von Goetze, lobte das Projekt. Seine Botschaft an diesem Abend war, dass Deutschland Antisemitismus nie wieder werde wachsen lassen. »Das versichern wir Ihnen!«
Viele der Anwesenden wollten am Abend der Begegnungen ihre ganz persönlichen Erinnerungen teilen. Wie Micha Neuhaus, der 1942 geboren wurde und als Kleinkind das Konzentrationslager Bergen-Belsen überlebte. Vor sieben Jahren wanderte er mit seiner Frau Felien aus Amsterdam nach Israel ein, doch seine Wurzeln liegen in Frankfurt: »Mein Vater und sein Bruder betrieben eine Lederwarenfabrik auf der Zeil und flüchteten nach Repressalien 1938 nach Amsterdam.« Die Brüder hätten sich gegenseitig versprochen, im Notfall die Kinder des anderen aufzunehmen und wie ihre eigenen zu erziehen.
Verewigung Leider kam es genau dazu. Der Bruder von Neuhaus’ Vater, dessen Frau und ihr vierjähriger Sohn Peter wurden in Sobibor von den Nazis umgebracht. »Doch vorher hatten sie ihre kleine Tochter bei Nichtjuden verstecken können. Nach Kriegsende holten meine eigenen Eltern 1946 das Mädchen zu sich, und seitdem war sie meine Schwester.« Bei der Verlegung der drei Gedenksteine 2006 waren er und seine Schwester, die eigentlich seine Cousine ist, in Frankfurt anwesend, »um das Andenken an unsere Familienangehörigen zu ehren«.
Daniela Epstein aus Jerusalem organisierte die Reise für die 25 deutschen Teilnehmer, auch sie ist eng mit Frankfurt verbunden – für ihre Familie liegen schon 16 Steine in der Stadt, bald werden es 20 sein. Das hat eine große Bedeutung für sie: »Es ist eine Art Verewigung, durch die es wieder einen Namen für die Toten gibt. Die zweite und die dritte Generation können dadurch ihre Familien wiederentdecken.« Denn Epstein weiß aus eigener Erfahrung: »Es wurde darüber nicht gesprochen.« Sie selbst hat erst in den vergangenen fünf Jahren durch Recherchen erfahren, wie viele Angehörige in den Todeslagern umkamen.
Trotz der grauenvollen Geschichte, die ihre Familie unter den Nazis erlitten hat, wurde Epstein zur Aussöhnung erzogen, ihre Eltern erhielten den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland für ihr Engagement im Jugendaustausch zwischen den beiden Ländern. »Durch die Informationen, die ich heute habe, sehe ich alles in einem anderen Licht und weiß erst jetzt, wie unglaublich bewundernswert die Arbeit meiner Eltern war.«