Tikva bedeutet Hoffnung, und Kfar Tikva ist das Dorf der Hoffnung. Es befindet sich auf einem Hügel in der weiten Jesreel-Ebene am Fuße des Karmelgebirges. Hier leben Menschen mit besonderen Bedürfnissen. Gegründet wurde das Behindertendorf Kfar Tikva Anfang der 60er-Jahre von Siegfried Hirsch auf dem Gelände des aufgegebenen Kibbuz Givat Zaid.
Der Einwanderer aus Königsberg wollte, dass seine Tochter Judith und Kinder anderer Familien »so leben wie wir«: ein Werkdorf für Behinderte, in dem die Bewohner Arbeiten in Werkstätten und in der Landwirtschaft verrichten.
Siegfried Hirsch und seine Mitstreiter sind Überlebende des Holocaust. Eine Betreuung ihrer Kinder durch ärztliches Personal lehnen sie ab. Hirsch wendet sich mit seiner Vision an den noch jungen Verein zur Förderung und Rehabilitierung geistig Behinderter in Israel, AKIM. Mit Henni Rothschild, einer Mitbegründerin von AKIM, teilt er das Faible für die Montessori-Pädagogik. Hirsch sei beseelt gewesen von der Idee, Behinderte so selbstständig wie möglich leben zu lassen, erinnert sich Henni.
fürsprecher In seinem Bemühen um das Gelände findet Hirsch einen gewichtigen Fürsprecher: Salman Schasar, der damalige Staatspräsident, setzt sich persönlich bei der Jewish Agency für ihn ein. »Dazu muss man wissen, dass der Präsident selbst eine behinderte Tochter hatte«, erklärt Henni Rothschild.
1964 ziehen die ersten Bewohner ins Dorf. Heute leben hier 220 Menschen mit körperlichen, geistigen und seelischen Behinderungen. Es ist eine kibbuzähnliche Gemeinschaft, meist teilt man sich zu zweit oder zu dritt eine kleine Wohnung.
In Kfar Tikva wird viel Wert auf einen strukturierten Tagesablauf gelegt und darauf, dass die Chaverim, die Bewohner, einer geregelten und sinnstiftenden Arbeit nachgehen. »Über die Arbeit«, so erklärt die Sozialpädagogin Jelena, »wird den Bewohnern Selbstwertgefühl vermittelt.« Im Dorf gibt es ein Gartenteam, eine Holz- und eine Keramikwerkstatt und eine Bäckerei. In einem größeren Fabrikgebäude werden Kerzen verpackt. Außerdem befinden sich im Dorf eine Tierfarm und eine Hundepension sowie die renommierte Winzerei Tulip.
spaziergang Der von den Folgen einer Frühgeburt gezeichnete Nathan arbeitet im Besucherzentrum der Weinkellerei. Die Schichtleiterin versichert, dass sie sehr zufrieden mit ihm ist. Auch wenn er inzwischen die meiste Zeit einfach nur auf einer Bank in der Vinothek sitzt, wolle keiner seiner Kollegen ihn missen.
Am Nachmittag wird Nathan beim Spaziergang von einer deutschen Freiwilligen begleitet. Junge Deutsche, die in Kfar Tikva ein Freiwilligenjahr leisten, sind in den Charakter des Dorfes eingeschrieben. Nathan hat in den 52 Jahren, die er hier lebt, fast 1000 junge Deutsche kommen und gehen sehen.
Neben den Angestellten des Dorfes kümmern sich jedes Jahr zehn bis 15 junge deutsche und acht bis zehn junge israelische Freiwillige um die Chaverim. Die Freiwilligen übernehmen leichte Pflegedienste, helfen in den Werkstätten, betreuen Kreativ-Workshops aber auch Aktivitäten wie Falafelessen, Bowling oder Reiten außerhalb des Dorfes. Und sie leisten Eins-zu-eins-Betreuung, um auf die Chaverim individuell einzugehen. Spazierengehen mit Nathan ist so eine Eins-zu-eins Betreuung.
flüchtlingskrise Es habe Zeiten gegeben, in denen die Deutschen 80 bis 85 Prozent der ausländischen Freiwilligen gestellt hätten, sagt Dina Luttati. Die orthodoxe Frau marokkanischer Herkunft ist Koordinatorin für die Helfer aus Übersee. Mittlerweile ist sie Rentnerin und nur noch beratend tätig. Vor ein paar Jahren hätten noch mehr als 600 Deutsche Freiwilligendienst im Heiligen Land geleistet, sagt sie. Derzeit sind es knapp 400.
Das habe auch mit der Flüchtlingskrise zu tun: Idealistische Deutsche engagierten sich derzeit lieber im eigenen Land. Überhaupt spiegele die Arbeit mit den Freiwilligen den Zeitgeist wider, sagt Luttati. Nach den Osloer Verträgen habe die Hoffnung auf Frieden viele Freiwillige nach Israel gebracht. Mit der zunehmend feindseligen Haltung gegenüber Israel sei in vielen Ländern die staatliche Unterstützung für den Freiwilligendienst eingestellt worden. Dafür entsenden kirchliche Organisationen und evangelikale Vereine aus inzwischen 31 Ländern immer mehr Helfer.
Junge Israelis, die vor ihrer Armeezeit ein freiwilliges soziales Jahr leisten, sind in Kfar Tikva relativ neu. Für Shir Hirsch aus dem Kibbuz Kfar Giladi war es zunächst merkwürdig, mit Deutschen zusammenzuarbeiten. Darauf habe sie sich nicht vorbereitet, als sie im August 2015 anfing, sagt sie. Doch fast ein Jahr später spricht die Begeisterung aus ihr. Es sei aufregend, eine andere Kultur kennenzulernen und dabei zu einer Gruppe zusammenzuwachsen.
geschenk »Ich stamme aus einem Kibbuz«, sagt Moshik Gross, der seit 2002 Direktor und Bürgermeister des Dorfes ist. Ein ganz wichtiger Beweggrund, die Leitung von Kfar Tikva zu übernehmen, sei die kibbuzartige Anlage des Dorfes gewesen. Und natürlich seine wunderschöne Lage. »Die Lebensqualität der Bewohner in Kfar Tikva ist untrennbar mit dem Engagement der jungen Freiwilligen verbunden«, erklärt Gross. »Sie sind ein Geschenk.«
Sein Koordinator für den Freiwilligendienst, Eran, erklärt, dass die Helfer für den pädagogischen Ansatz des Dorfes unverzichtbar sind. Dass die Deutschen aus einer anderen Kultur und erst einmal ohne jegliche Hebräischkenntnisse kommen, sieht er nicht als Nachteil. Das würde vielmehr jedes Jahr Beziehungen schaffen, die ohne Worte auskämen und sehr wertvoll für diejenigen Bewohner seien, die sich mit Worten nur schwer verständigen könnten.
Als Moshik Gross von den Familien der Bewohner gebeten wurde, die Leitung des Dorfes zu übernehmen, stand es um Kfar Tikva nicht gut. Gross’ Vorgänger stand wegen Veruntreuung von Geldern vor Gericht, das Dorf war nicht nur in Millionenhöhe verschuldet, sondern auch baulich heruntergekommen.
augenhöhe Zur Vorgeschichte von Kfar Tikva gehört auch dies: Im Jahr 1936 gründete im badischen Maisenbach Friedrich Nothacker das Gästehaus Bethel – ein Erholungsheim für Gläubige, die nicht für die Nazis waren. Nach dem Krieg besuchte Nothacker Israel. Immer wieder. Bei seinem siebten Besuch lernte er Siegfried Hirsch kennen und sagte ihm seine Unterstützung für die Errichtung eines Werkdorfs für Behinderte zu. 1963 rekrutierte der Missionar für einen Bautrupp 35 Freiwillige. »Gläubige Deutsche, jugendliche Handwerker bauen ein Dorf für zurückgebliebene Kinder. Männer, die während der Nazizeit Kinder waren, wollen Buße tun für ihre Eltern«, hieß es im November 1963 in der Tageszeitung »Maariv«.
Dina Luttati saß lange Zeit in einem schicken Regierungsgebäude in Jerusalem. ihr Büro war an das Innen- und das Sozialministerium angegliedert. Dass hier Deutsche arbeiten, tue dem Zweck des Dorfes gut, sagt sie. Sie sorgten dafür, dass auch die Israelis ihre Arbeit sorgfältig machen. Am meisten aber bewundert Luttati den Anspruch von Kfar Tikva, »dem behinderten Menschen auf Augenhöhe zu begegnen«.
Es sei die erste Einrichtung in Israel gewesen, die Beziehungen zwischen Bewohnern bis hin zum Zusammenleben als Paar erlaubt habe. Das vor allem mache dieses Dorf der Hoffnung so einzigartig.