Hebräisch

Die Straße ist ein Wörterbuch

Die Dämmerung hat schon eingesetzt. Es ist gerade noch genug Licht da, um die Buchstaben zu entziffern. Mit ausgestrecktem Zeigefinger geht Guy Sharett in die Knie.

»Was bedeutet das?«, fragt er und zeigt auf ein paar schwarze Zeilen an einem Mauerstück. Ein junger Mann versucht sich im Lesen, unüberhörbar sein italienischer Akzent: »Meine Aufgabe ist es, Farbe in eure grauen Leben zu bringen«, hat sich ein Straßenpoet namens Zucker hier verewigt. Für die meisten ist es ein kleines Graffiti auf bröckelndem Stein, für Sharett bestes Unterrichtsmaterial. Der Mann aus Tel Aviv bringt den Hebräischunterricht auf die Straßen seiner Stadt.

Verkehrsschilder, Poster, Ladenbezeichnungen, Werbungen, Kritzeleien. Das alles sind gefundene Schätzchen für den privaten Lehrer. Und selbst das, was in den Augen der meisten Betrachter als Schmiererei gilt, benutzt er, um den etwa zehn jungen Frauen und Männern das Neuhebräisch Iwrit beizubringen.

»Was steht hier im Hauseingang?«, fragt er die umstehenden Schüler und lässt sie in ein düsteres Treppenhaus blicken. »Es riecht nicht gut«, raunt eine junge Frau ihrer Nachbarin zu. Macht nichts, lacht Sharett das Geruchsproblem weg. Ob Nava eine Barfrau oder etwas anderes sei, ist in verschmierten Lettern geschrieben. Lehrer Guy hebt seine weiße Tafel in die Höhe, buchstabiert »Barmanit« und erklärt, das sei das weibliche Pendant zum Mann hinter der Theke. Weiter geht’s.

Neueinwanderer Sharett spricht sieben Sprachen. Die meisten hat er sich selbst beigebracht. »Ich habe mir das Lehren nicht ausgesucht«, sagt er und schaut verschmitzt, »es hat mich ausgesucht.« Hauptsächlich arbeitet er als Hebräischlehrer für Neueinwanderer aus aller Herren Länder, meist in Gruppen- oder Einzelunterricht.

Von ihm das Aleph-Bet beibringen ließen sich auch schon der tschechische Konsul, ein Franziskanermönch und jede Menge ausländischer Journalisten. Nicht alle Stunden finden auf der Straße statt, manchmal sitzt auch Sharett in einem Raum oder unter freiem Himmel im Park. Seine Spezialität aber sind die Streifzüge durch das Viertel Florentin oder andere Teile Tel Avivs. Einmal die Woche bietet er Kurse in verschiedenen Schwierigkeitsgraden an.

»Ich habe schon immer ganz unterschiedliche Medien benutzt, um Sprache zu vermitteln. Es kann eine Flasche Milch mit indonesischem Aufdruck sein, eine kurze Unterhaltung oder eben ein Graffiti an der Wand.« Man könne dabei Unmengen lernen: Syntax, Satzstruktur, Konjugation von Verben, Vokabeln. »Die Straße ist eine Fundgrube, linguistisch und kulturell«, ist der 39-Jährige überzeugt. Außerdem behalte man mehr, wenn man ein Wort mit einem Erlebnis verbindet, einem besonderen Bild oder einer Überraschung. »Hier draußen lernt man mit allen fünf Sinnen, nicht nur den Augen und Ohren.«

Eine sinnliche Erfahrung liegt gleich hinter der nächsten Ecke: Als die Gruppe durch eine Gasse mit Tischlereien schlendert, hängt der beißende Geruch von frischer Farbe in der Luft. »Ma se?«, fragt eine junge Frau aus Frankreich. Es wird geraten, diskutiert. Am Ende steht fest, es muss sich dabei um »Lacka« handeln. Fleißig wird aufgeschrieben, noch einmal tief eingeatmet, damit Wort und Geruch auch wirklich die Synapsen kitzeln.

Lehrer Sharetts Methode kommt an. »Er ist ein großartiger Lehrer«, findet Katja Koginsky, die vor zwei Jahren aus Frankreich eingewandert ist. »Weil er sich in uns hineinversetzt und unsere Probleme versteht.« Im regulären Ulpan sei sie oft eingeschlafen, weil es so langweilig war. »Guy aber hat zu allem etwas zu erzählen, eine skurrile Geschichte hier, ein Witz da, es ist immer lustig.« Ihre Freundin Anouk Chazelas fügt hinzu, dass die Straßenschule zweierlei sei. »Lernen und Leben. Und das macht es so einzigartig.«

»Es geht mir darum, dass die Schüler ihr linguistisches Ich finden«, beschreibt Sharett seinen Unterrichtsstil. »Jeder von uns hat unterschiedliche Kratzer und Narben im Sprachgebrauch. Die müssen beachtet werden. Durch die Fremdsprachen, die ich selbst gelernt habe, kann ich mich in andere gut hineinversetzen.«

Ulpan Brian Schaefer hat vor einigen Monaten Alija aus Los Angeles gemacht und ist regelmäßig mit dabei. Zweimal die Woche drückt der 29-Jährige die Bank im regulären Ulpan. Begeistert davon ist er nicht: »Sie hämmern uns die Grammatik rein, als gäbe es kein Morgen. Das lässt keine Möglichkeit, den Spaß an der Sprache und ihre Schönheit zu erkunden.«

Mit Guy sei das völlig anders. Er vermittele nicht ausschließlich Iwrit, sondern gebe in seinen Stunden einen Schlüssel zu den Menschen und der Kultur des Landes mit, lobt Schaefer. Das sei besonders hilfreich für die Olim Chadaschim.

»Es ist ein aufregendes Gefühl, Hebräisch zu lernen, während man herumspaziert und in die Köpfe der Einwohner eintaucht.« So wie in den des Graffiti-Künstlers, der ein Konterfei von Zionistenvater Theodor Herzl auf die Wand gesprüht hat. Daneben steht auf Iwrit: »Wenn ihr nicht wollt, dann müsst ihr nicht.« Der Lehrer läuft zur Höchstform auf, erzählt von Sprache, Geschichte, Kultur. Guy Sharett und die Straßenpoeten von Tel Aviv – ein Lehrbuch der ganz besonderen Art.

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