Evolution

Die fehlende Menschenart

Wissenschaftler aus Tel Aviv und Jerusalem haben eine bisher unbekannte Art von Hominiden entdeckt

von Sabine Brandes  03.07.2021 23:28 Uhr

Teile der gefundenen Schädelknochen des Nesher-Ramla-Hominiden Foto: Tel Aviv University

Wissenschaftler aus Tel Aviv und Jerusalem haben eine bisher unbekannte Art von Hominiden entdeckt

von Sabine Brandes  03.07.2021 23:28 Uhr

Wissenschaftler und an Archäologie und Evolution Interessierte sind begeistert: »Eine der bedeutendsten anthropologischen Entdeckungen des Jahrhunderts«, ist Israel Hershkovitz von der Universität Tel Aviv (TAU) überzeugt. Wissenschaftler aus Tel Aviv und Jerusalem holten jüngst bei Ausgrabungen im Zentrum des Landes Aufregendes aus der Erde: Sie fanden Fossilien eines Urzeitmenschen, der bislang völlig unbekannt war.

Der sogenannte Nesher-Ramla-Hominid soll bis vor mindestens 130.000 Jahren in der Levante gelebt haben. Umfassende Untersuchungen der menschlichen Überreste hätten gezeigt, dass vor etwa 140.000 Jahren eine »außergewöhnliche Gruppe von Hominiden in Israel gelebt hat«, sagt Hershkovitz. Benannt ist er nach der Fundstelle »Nesher« in der Nähe der modernen Stadt Ramla.

Die Schädelknochen stammen aus dem späten Mittelpleistozän.

Nach dem Vergleich mit 400.000 Jahre alten Hominiden-Fossilien, die zuvor in Israel und Eurasien gefunden wurden, kamen die Forscher zu dem Schluss, dass die jetzt entdeckten Schädelknochen zu einer einzigartigen Bevölkerung gehören, die aus dem späten Mittelpleistozän stammt (vor etwa 474.000 bis 130.000 Jahren) und hiermit zum ersten Mal identifiziert wurde.

PAARUNG Sie verfüge sowohl über Neandertal-Charakteristika als auch über solche des Frühmenschen. Es handele sich dabei um die sogenannte fehlende Menschenart, meinen die Entdecker. Die soll sich mit unseren Vorfahren der Gattung Homo sapiens gepaart haben, als letztere in dieser Region ankam, die den heutigen Nahen Osten bildet.

Darüber hinaus könnten durch den Fund einige der mysteriösesten Fragen in der Menschheitsgeschichte beantwortet werden, hebt Hershkovitz hervor. Dazu gehören: »Wo und wann gelangten die Neandertaler nach Europa?« oder »Warum tragen einige Gruppen von Neandertalern Gene des Homo sapiens, lange bevor die Neandertaler diesen in Europa trafen?«. Nesher Ramla würde darauf »ziemlich eindeutige Antworten geben«, so der Experte.

Zwei Teams waren an der dramatischen Ausgrabung beteiligt: eine anthropologische Gruppe der Universität Tel Aviv unter der Leitung von Hershkovitz und ein Team von Archäologen der Hebräischen Universität Jerusalem, geleitet von Yossi Zaidner, der das außergewöhnliche Fossil persönlich entdeckte. Zaidner spricht von einem unglaublichen Fund. »Wir hätten niemals gedacht, dass so spät in der Menschheitsgeschichte neben Homo sapiens auch archaische Homo-Arten durch die Gegend gelaufen sind.«

KULTUR Der Nesher-Ramla-Hominid habe fortschrittliche Steinwerkzeuge hergestellt und sei wahrscheinlich mit dem lokalen Homo sapiens zusammengetroffen, der ungefähr zur selben Zeit in der Region gelebt habe. »Wir gehen davon aus, dass sie Technik und Kultur geteilt haben«, erläutert Zaidner. Das wahrscheinlichste Szenario sei, dass diese beiden Gruppen miteinander agiert hätten. »Es ist klar, dass die menschliche Evolution viel komplexer war, als wir angenommen hatten. Die Entwicklung umfasste Kontakte zwischen den verschiedenen menschlichen Bevölkerungsgruppen.«

Der Nesher-Ramla-Hominid ist mit dem Neandertaler und dem Homo sapiens verwandt.

Die Arbeiten wurden in der prähistorischen Stätte Nesher Ramla durchgeführt. Dafür gruben die Teams bis zu acht Meter tief in den Boden. Neben den menschlichen Knochen wurden eine große Anzahl an Tierknochen von Pferden, Hirschen und Auerochsen sowie verschiedene Steinwerkzeuge gefunden. Der Bericht über den spektakulären Fund aus Israel wurde im renommierten Wissenschaftsmagazin »Science« veröffentlicht.

»Die Entdeckung eines neuen Typus des Hominiden ist von immenser wissenschaftlicher Bedeutung«, hebt Hershkovitz hervor. »Sie ermöglicht uns, ein neues Puzzleteil zu der menschlichen Evolution hinzuzufügen und die zuvor gefundenen Fossilien einzuordnen. Die Nesher-Ramla-Menschen erzählen eine faszinierende Geschichte.« Obwohl sie vor so langer Zeit gelebt hätten, würden sie viel über die Entwicklung und Lebensweise unserer Vorfahren preisgeben.

HYPOTHESE Zudem stelle das Auftauchen der neuen Menschenart, die der Prä-Neandertaler-Bevölkerung Europas ähnelt, die bestehende Hypothese infrage, dass Neandertaler ausschließlich aus Europa stammen. Zumindest einige ihrer Vorfahren hätten ihren Ursprung also in der Levante.

»Vor unserem Fund glaubten die meisten Wissenschaftler an eine europäische Neandertaler-Geschichte, in der kleine Gruppen von Neandertalern durch die Ausbreitung der Gletscher während der Eiszeit in Richtung Süden wanderten und dadurch vor etwa 70.000 Jahren in diese Region kamen. Doch stattdessen sieht es so aus, als ob die Vorfahren der europäischen Neandertaler bereits vor 400.000 Jahren in der Levante lebten und von hier aus mehrfach in Richtung Westen nach Europa und Osten nach Asien gewandert sind.«

Tatsächlich geht Hershkovitz jetzt davon aus, dass eine viel größere Neandertaler-Population in dieser Gegend ansässig gewesen sei. Die berühmten Neandertaler aus Westeuropa seien seiner Meinung nach lediglich eine kleine Gruppe der großen Bevölkerung aus dieser Region – und nicht andersherum.

Die Forscher meinen auch, dass im heutigen Nahen Osten zwei Arten von Menschengruppen mindestens 100.000 Jahre lang Seite an Seite gelebt hätten: die Nesher-Ramla-Menschen und der Homo sapiens, der vor rund 200.000 Jahren hier angekommen sei. Die Forscher sind sicher, dass sie Kontakt gehabt, Wissen und Techniken für die Werkzeugherstellung ausgetauscht und sich gepaart haben. So wie es Menschen eben tun.

Leserbriefe

»Es gibt uns, nichtjüdische Deutsche, die trauern und mitfühlen«

Nach der Sonderausgabe zum Schicksal der Familie Bibas haben uns zahlreiche Zuschriften von Lesern erreicht. Eine Auswahl

 20.03.2025

Vereinte Nationen

»Die Hamas isst wie Könige, während Geiseln hungern«

Die ehemalige Geisel Eli Sharabi hat vor dem Sicherheitsrat der UN über Hilfslieferungen an Gaza gesprochen - und grausame Details aus seiner Gefangenschaft geschildert

von Nils Kottmann  20.03.2025

Nahost

Hamas will plötzlich doch Geiseln freilassen

Der mit der israelischen Operation »Kraft und Schwert« ausgeübte Druck scheint zu wirken

 20.03.2025

Israel

Wieder Raketen der Huthi auf Israel

Die vom Iran unterstützte Terrorgruppe schießt wieder mitten in der Nacht und schickt Millionen von Menschen in die Luftschutzbunker

von Sabine Brandes  20.03.2025

Interview

»Musik ist heilsam«

Der israelische Star-Mandolinist Avi Avital über seine neue Tournee, den Frühling und das intensivste Konzert seiner Karriere

von Nicole Dreyfus  20.03.2025

Major Dov Lang

»Diesen Krieg müssen wir gewinnen«

Der IDF-Soldat hatte am 7. Oktober 2023 Urlaub. Früh morgens rief ihn einer seiner Soldaten an und sagte: »Mein ganzes Team ist tot.« Ab da war alles anders. Ein Gespräch über Hamas-Terroristen, Geiseln und ein Versprechen an die Mutter

von Esther Schapira, Georg M. Hafner  20.03.2025

Israel

Hamas greift Tel Aviv mit Raketen an

Was bislang bekannt ist

 20.03.2025 Aktualisiert

Nahost

Katz kündigt weitere Fluchtaufrufe für Gaza-Bewohner an

Israels Außenminister droht der Hamas mit der völligen Verwüstung des Gebiets, sollten die Geiseln nicht freikommen

 20.03.2025

Jerusalem

Berichte: Gewalt bei Protesten gegen israelische Regierung

Tausende demonstrieren gegen den Neubeginn des Gaza-Kriegs und die geplante Entlassung des Inlandsgeheimdienstchefs. Teilnehmer sollen »geschlagen, getreten und geschubst« worden sein

 20.03.2025