Bildung

Die andere Krise

Leeres Klassenzimmer in einer Jerusalemer Grundschule Foto: Flash 90

Fehlte vor dem Beginn der Corona-Pandemie ein Kind in der Grundschule ohne Entschuldigung der Eltern, folgte binnen kürzester Zeit ein Anruf aus dem Sekretariat oder vom Lehrer direkt: »Wo ist Amit?« oder »Warum ist Ori nicht im Unterricht?«

Vor Kurzem dann die »gute« Nachricht aus dem Bildungsministerium in Jerusalem: »Rund 75 Prozent der Schüler nehmen am Fernunterricht teil.« Und die restlichen 25 Prozent?

studie Eine Studie der Universität Tel Aviv unter der Leitung von Lilach Shalev-Mevorach beschäftigte sich mit dem Thema »Fernunterricht in Zeiten von Corona«, um Licht in das Alltagsleben von Kindern ohne Schule zu bringen. Da das Thema auch in der nahen Zukunft relevant bleiben wird, müssten Wege gefunden werden, das System der Online-Stunden zu verbessern, heißt es aus dem Ministerium.

Drei psychische Grundbedürfnisse von Kindern werden derzeit nicht erfüllt.

Und da gebe es noch viel zu tun. Denn als die 200 teilnehmenden Lehrer von öffentlichen Schulen im ganzen Land über andere Aspekte als die physische Anwesenheit berichteten, sanken die Zahlen noch weiter. Auf die Frage, wie viele Schüler ihrer Meinung nach von einem Unterricht dieser Art profitierten, antworteten 50 Prozent, sie befürchteten, dass nur etwa die Hälfte der Kinder etwas dabei lerne.

Die Klassen eins bis zwei würden noch verhältnismäßig gut mitarbeiten, da oft die Eltern bei Zoom-Unterricht und Hausaufgaben helfen, heißt es in der Studie. Bei Schülern der Klassen fünf bis sechs jedoch nehme weniger als die Hälfte der Kinder aktiv am Fernunterricht teil.

Nir Madjar arbeitet am Programm für Erziehungsberatung der Churgin-Fakultät für Pädagogik an der Bar-Ilan-Universität. Der Psychologe und Experte für Lernmotivation ist überzeugt, dass der Verlust von Sicherheit und Bedeutung der Hauptgrund ist, warum die Langzeitschäden für die psychische Gesundheit von Schülern nach den Monaten ohne regelmäßigen Unterricht an den Schulen immens sein werden.

SPÄTFOLGEN Wahrscheinlich würden diese Folgen erst nach einem gewissen zeitlichen Abstand im Anschluss an die Krise zu sehen sein, sagt Madjar. »Es ist wie in einem Krieg. Während man mittendrin ist, reißen sich die Menschen zusammen oder ziehen sich zurück, doch wenn alles vorbei ist, bricht es aus. Wir gehen davon aus, dass die Zahlen bei Depressionen und Suizidgedanken steigen werden.«

Obwohl das Interesse der Fachleute an diesem Thema immens sei, gebe es bislang keine Langzeitauswertung. Zu neu und außergewöhnlich ist die Situation. Allerdings könne man durch Kenntnisse aus der allgemeinen Psychologie auf wahrscheinliche Auswirkungen und Folgen schließen.

»Menschen müssen die Erfüllung von drei grundlegenden psychischen Bedürfnissen erleben: das Gefühl von Autonomie, das Gefühl von sozialer Verbundenheit und das Gefühl von Kompetenz«, führt Madjar aus. Auch für Kinder sei dies für die mentale Gesundheit enorm wichtig. »Doch mit der Pandemie sind alle drei verschwunden – für Schüler und Lehrer.«

»Die Kontrolle über das Leben ist von einem Tag auf den anderen verloren gegangen. Denn in dieser Situation dürfen wir nicht einmal mehr entscheiden, ob wir das Haus verlassen dürfen.« Das Gefühl der Kompetenz sei das Wissen, dass man Dinge erreichen könne, die man sich vorgenommen hat. »Doch auch das ist nicht mehr vorhanden.« Als größten Verlust sieht er den Mangel an sozialen Verbindungen an.

GESUNDHEIT »Wenn ich den Begriff ›soziale Distanz‹ höre oder lese, möchte ich immer eingreifen und klarmachen: Sagt das nicht! Benutzt stattdessen ›physische Distanz‹. Der bloße Gedanke an soziale Distanz ist grausam. Das wissen wir aus allen Disziplinen, die mit Gesundheit zu tun haben.«

»Was derzeit geschieht, geht weit darüber hinaus, dass Kinder ein oder zwei Kapitel Geschichte verpassen oder eine mathematische Gleichung nicht lösen können. Den Stoff kann man aufholen. Doch die Dinge, die im Leben die größte Bedeutung haben, sind stark beschädigt.«

In Israel begann der erste Lockdown Mitte März 2020, der dritte dauert momentan noch an. In der Zwischenzeit wurden die Kinder für kurze Phasen in den Schulgebäuden unterrichtet, vor allem die Klassen eins bis drei. Nicht selten wurde nur wenige Stunden zuvor entschieden, ob es am nächsten Tag Schule gibt oder nicht.

Nicht selten wurde nur wenige Stunden zuvor entschieden, ob es am nächsten Tag Schule gibt oder nicht.

Der Experte findet: »Die Verantwortlichen in der Politik haben dabei versagt, die Maßnahmen verantwortlich und transparent zu kommunizieren und damit Stabilität und Bedeutung zu geben. Selbst wenn die Schulen für zwei Monate oder noch länger geschlossen sein müssen, muss es Schülern, Eltern und Lehrern offen mitgeteilt werden.« Auch beklagt er, dass es seines Wissens keinen psychologischen Berater in der Regierung gibt, der hervorhebt: »Wir haben das Wissen. Lasst es uns anwenden.« Vertrauen werde so nicht hergestellt.

UNGEWISSHEIT »Ich stand am Schultor, um meine Tochter abzuholen, und der Lehrer, der herauskam, rief mir zu: ›Bis morgen!‹«, erzählt Karmit Levy aus Ramat Hascharon. »Auf meine Antwort, dass der Unterricht für den nächsten Tag abgesagt ist, konterte er: ›Doch nicht. Gerade kam der Anruf aus dem Ministerium.‹ Diese Ungewissheit ist unerträglich für alle Beteiligten.«

»Ich weiß nicht, wie ich meinen Töchtern die Bedeutung von Verbindlichkeit und damit ein Gefühl von Sicherheit vermitteln soll, wenn eine derart wichtige Sache in ihrem Leben – die Schule – ein einziges Chaos ist und in der Gesellschaft momentan kaum noch Bedeutung hat.«

Das sei in der Tat extrem schwierig, meint auch Madjar. »Die Bedeutung von alltäglichen Dingen war immer so klar. Doch derzeit sind Stabilität und Bedeutung verschwunden. Das ist eine grundsätzliche Krise.« Er unterstreicht, wie wichtig es ist, Kindern in dieser verwirrenden und schwierigen Zeit eine Umgebung zu schaffen, die ihnen ein gewisses Gefühl der Kontrolle und Kompetenz und vor allem soziale Interaktionen zurückgibt.

atmosphäre Madjar hofft, dass dennoch aus der Krise gelernt wird. »Ich wünsche mir, dass die Lehrer im Anschluss an die Pandemie genauestens auf die mentale Gesundheit der Kinder achten. Auch wenn die Kinder selbst sich nicht mitteilen. Dass sie klarmachen, es ist nicht so wichtig, wenn jetzt etwas vom Lernstoff nicht verstanden wird. Eine Atmosphäre an Schulen, wo jeder Schüler genau weiß, dass er sich jederzeit mit Problemen an die Lehrer wenden kann, wäre eine Möglichkeit, die Stabilität wiederherzustellen.«

Außerdem müsse klargemacht werden, dass die Pandemie und damit diese Krise enden wird. »Es war ein schwieriges Jahr, aber es wird vorbeigehen und wieder gut«, sollte man sagen. Denn das Schlimmste, was es gibt, meint Madjar, »ist ein Leben ohne Hoffnung«. Mit einem optimistischen Ausblick indes »geben wir den Kindern und uns selbst die Hoffnung zurück«.

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