Es gibt einen Irrtum, der sich hartnäckig hält im deutschen Diskurs über Krieg und Frieden. Einen Irrtum, der zur Haltung geworden ist. Und eine Haltung, die inzwischen zur Pose geronnen ist. Gemeint ist der deutsche Pazifismus, der glaubt, ein Frieden sei immer möglich – man müsse ihn nur wollen. Wer aber vom Frieden redet, ohne vom Gegenüber zu sprechen, der redet nicht über Frieden. Der redet über sich selbst.
Seit dem 7. Oktober 2023 steht Deutschland vor einem Dilemma, das es nicht sehen will. Die Massaker der Hamas, der gezielte Angriff auf jüdisches Leben auf einem souveränen Staatsgebiet, die systematische Brutalität – all das konfrontiert eine Gesellschaft, die sich auf »Nie wieder« verpflichtet hat, mit der Frage: Was tun, wenn dieses »Nie wieder« bewaffnet werden muss? Wenn es nicht genügt, zu erinnern und zu mahnen – sondern wenn es bedeutet, konkret zu handeln? Und schlimmer noch: zu kämpfen?
Die Hamas will nicht verhandeln. Sie will vernichten
Doch statt sich diese Frage zu stellen, flüchtet sich der deutsche Diskurs in eine vertraute Erzählung. Die der Kriegsverweigerung, der moralischen Überlegenheit, der Diplomatie als alternativloser Weg. Israel, so heißt es dann, müsse »maßvoll reagieren«, »nicht überziehen«, »Verhältnismäßigkeit wahren«. Als ob der 7. Oktober ein Betriebsunfall gewesen sei. Als ob sich Terror mit Anstand beeindrucken ließe.
Die Grundlage dieses Denkens ist nachvollziehbar. Der deutsche Pazifismus ist das Kind des Zweiten Weltkriegs. Genauer: seiner Niederlage. Deutschland wurde entwaffnet – moralisch wie militärisch. Und es wurde besiegt – durch die Gewalt anderer. Dass daraus eine Ablehnung von Gewalt erwuchs, ist nachvollziehbar, aber nicht besonders ehrenwert. Denn ohne den massiven Bombenhagel der Alliierten hätte Hitler nie kapituliert. Er wurde mit Gewalt entmachtet.
Der deutsche Pazifismus ist daher zwar eine Lehre aus der Erfahrung der eigenen Schuld, blendet jedoch vollkommen aus, dass es für die Zerschlagung eines diktatorischen, menschenverachtenden Regimes und seiner durchideologisierten Gesellschaft manchmal keine Alternative zur militärischen Gewalt gibt. Denn während Deutschland gezwungen wurde zu lernen, wie Frieden entsteht – durch Kapitulation, Schuldeingeständnis, Besatzung, Vertreibung und Landverlust –, hat Israel es mit einem Gegner zu tun, der genau das Gegenteil will.
Die Hamas will nicht verhandeln. Sie will vernichten. Ihre Charta ist kein geheim gehaltener Plan, sondern öffentliches Dokument. Es geht ihr nicht um Grenzen, nicht um Souveränität, nicht um Zwei-Staaten-Lösungen. Es geht um ein Ende Israels. Punkt.
Es ist leicht, gegen den Krieg zu sein. Schwerer ist es, für den Frieden zu kämpfen.
Wer unter diesen Bedingungen von »Frieden« spricht, verkennt, dass Frieden nicht der natürliche Zustand ist, sondern das Ergebnis von Entscheidungen – auf beiden Seiten. Es braucht mindestens zwei, um zu kämpfen. Aber eben auch zwei, um aufzuhören. Wenn die eine Seite aufhören will, die andere aber nicht, dann ist nicht Krieg das Problem, sondern der Grund dafür. Und die Hamas will nicht aufhören. Seit anderthalb Jahren verweigert sie die Kapitulation. Deshalb ist der Krieg gegen die Hamas kein Bruch mit Friedensethik. Jedenfalls, wenn man sie richtig interpretiert. Er ist ihr tragischer Ernstfall.
Frieden, das bedeutet in der Realität oft: Verzicht auf Rache, auf Totalität, auf Triumph. Es bedeutet, den Gegner leben zu lassen. Doch um das zu können, braucht es einen Gegner, der nicht weiter tötet. Der aufhört. Der verzichtet. Wer das nicht tut, dem ist kein Frieden zuzumuten. Solange sich die Hamas diesem Gedanken verweigert, solange sie Tunnel unter Schulen gräbt und Menschenleben – eigene wie fremde – als Schachfiguren behandelt, ist jeder Ruf nach »Waffenstillstand« nur ein Ruf nach asymmetrischem Frieden: Israel soll aufhören, Hamas nicht.
Doch das ist keine Friedensforderung. Es ist die bewusste Ignoranz gegenüber dem, was die Mehrheit der Palästinenser selbst fordert: einen palästinensischen Staat ohne Juden.
Erst wenn der deutsche Pazifismus erkennt, dass nicht alle Feinde gleich sind – und dass manche überhaupt keine Feinde des Krieges, sondern Freunde des Krieges sind –, erst dann wird er wieder relevant. Solange bleibt er ein Reflex aus anderen Zeiten. Gut gemeint, aber blind für die Gegenwart.
Und vielleicht liegt genau hier die eigentliche Zumutung: anzuerkennen, dass Friedensethik nicht an der Gewalt scheitert, sondern an der Weigerung zur Verantwortung. Es ist leicht, gegen den Krieg zu sein. Schwerer ist es, für den Frieden zu kämpfen. Moralisch wie militärisch.
Die Bestsellerautorin lebt in Tel Aviv. Zuletzt erschienen von ihr die Bücher »Nice to meet you, Tel Aviv!« (Polyglott) und »Von Juden lernen« (dtv).