Um 20 Uhr schrillte die Sirene zwei Minuten durch das Land. Wie jedes Jahr. Und doch ist alles anders. An diesem Jom Hasikaron, dem nationalen Gedenktag für die gefallenen Soldaten und Opfer von Terror, bleiben die Friedhöfe leer. Zeremonien werden ohne Publikum und virtuell abgehalten. Dennoch versicherte Stabschef Aviv Kochawi den Hinterbliebenen vor der Kotel in Jerusalem: »Trotz der jetzigen Distanz ist das ganze Volk Israel mit euch.«
Bildschirme »Heute, wenn die Flagge in Erinnerung an die Gefallenen heruntergelassen wird, werden wir an den immensen Schmerz erinnert, den Sie, liebe Familienmitglieder, spüren. Es ist der Schmerz der Freiheit und der Schmerz der Unabhängigkeit für den Staat Israel. Auf allen Bildschirmen, in jedem Haus, halten die Menschen inne und gedenken den gefallenen Frauen und Männern.«
Seit dem Jahr 1873 sind 23.816 israelische Soldaten im Kampf gefallen, gibt das Verteidigungsministerium an. Innerhalb eines Jahres, seit vergangenem Jom Hasikaron, starben 42 Mitglieder der IDF. Die Gesamtzahl der Terroropfer steht bei 4166.
Am Dienstagmorgen um 11 Uhr wird eine zweiminütige Sirene ertönen, mit der die Zeremonie auf dem Herzlberg in Jerusalem beginnt. Hierzu werden Premierminister Benjamin Netanjahu und Verteidigungsminister Naftali Bennett erwartet. Doch auch dabei sind keine Zuschauer erlaubt.
»Dieser Tag ist für uns. Damit wir – wenn auch nur für Minuten – die Namen und Gesichter kennen«, betont Präsident Reuven Rivlin.
Auch Präsident Reuven Rivlin war bei der Zeremonie unter dem Motto »Lieder in ihrer Erinnerung« an der Kotel dabei. Er zitierte den Poeten Avraham Chalfi: »Ich zeichnete mir das Königreich des Himmels in grün – in Erinnerung an all meine Toten«. Heute würden die Trauernden allein in ihren Häusern sein, so Rivlin. »Und wir können nicht an ihrer Seite auf den Militärfriedhöfen stehen. Wir können sie nicht umarmen, wenn die Sirenen schrillen und an ihren Herzen zerren.« Und doch würde man den Schmerz gemeinsam fühlen.
»Ich weiß, liebe Familien, dass Sie keinen Gedenktag brauchen, um an die Liebsten zu erinnern. Sie haben so viele Tage, so viele Nächte, das ganze Jahr. Dieser Tag ist für uns. Damit wir – wenn auch nur für Minuten – die Namen und Gesichter kennen. Die Leben und Geschichten der Männer und Frauen dieses Landes, Ihrer Lieben. In diesem Jahr können wir nicht gemeinsam weinen, wir können einander nicht in die Augen schauen. Doch wir haben die zwei Versprechen: uns zu erinnern und erinnert zu werden.«
Knessetgebäude Im Anschluss wurden die Namen der Getöteten an das Knessetgebäude und die Altstadtmauern projiziert. Premier Netanjahu traf sich mit seiner Frau Sara mit Hinterbliebenen per »Zoom« virtuell und sprach über gemeinsame Erfahrungen im Umgang mit der Trauer. Netanjahus Bruder Yoni war als Soldat ums Leben gekommen.
Eine gemeinsame israelisch-palästinensische Gedenkfeier (Israeli-Palestinian Joint Memorial Day Ceremony) fand ebenfalls am Abend virtuell statt. Familienangehörige beider Seiten hielten Reden in Tel Aviv und Ramallah und sprachen sich dabei für die Aussöhnung und für Frieden aus.
INSPIRATION Die Initiatoren gaben an, dass sich rund 200.000 Menschen zugeschaltet hatten, um die Veranstaltung zu sehen. Der Sondergesandte der Vereinten Nationen, Nikolay Mladenov, nannte die Sprecher »eine Inspiration für uns alle«. In rechtsgerichteten Kreisen ist die Veranstaltung, die seit 2006 stattfindet, umstritten.
Sicherheitskräfte begannen derweil am Dienstagmorgen mit dem Aufbau von Straßensperren, um große Versammlungen auf den Militärfriedhöfen zu verhindern. Die Polizei erklärte jedoch, dass sie niemanden davon abhalten werde, die Gräber ihrer Angehörigen zu besuchen. Die Petition, die mehrere Hinterbliebene beim Gerichtshof eingereicht hatten, dass die Friedhöfe trotz des Coronavirus geöffnet werden sollten, wurde von den Richtern abgelehnt.
Ab 17 Uhr wird es noch einmal eine generelle Ausgangssperre in ganz Israel geben, die bis zum Abend des Unabhängigkeitstages (Mittwoch 20 Uhr) andauern wird.