Geisel-Angehörige

»Das ganze Land muss erzittern«

Protest für die Geiselbefreiung in Tel Aviv Foto: Flash90

Nach dem Fund der sechs von der Hamas ermordeten jungen Geiseln Hersh Goldberg-Polin, Carmel Gat, Ori Danino, Almog Sarusi, Eden Yerushalmi und Alexander Lobanov wollen die Angehörigen nicht mehr stillsitzen. Sie riefen am Sonntagmorgen die israelische Bevölkerung auf, »das ganze Land erzittern zu lassen« und fordern einen Generalstreik, um einen Deal für die Befreiung ihrer Liebsten aus Gaza durchzusetzen.

Daniel Lifshitz, der Enkel der Geisel Oded Lifshitz sagte, dass das Wort »ach‹schaw« (jetzt), der Schlachtruf der Angehörigen, nach der Tragödie um die sechs Geiseln noch viel mehr Dringlichkeit bekommen habe. »Sie sterben in diesen Tagen, sie können in diesen grauenvollen Zuständen in Gaza kaum überleben. Sie müssen befreit werden. Jetzt! Jetzt!«

Auch Verteidigungsminister Yoav Gallant hatte klare Worte nach der schrecklichen Nachricht: »Das Kabinett muss sofort zusammentreten und die am Donnerstag getroffene Entscheidung rückgängig machen. Für die kaltblütig ermordeten Geiseln ist es zu spät. Doch wir müssen die Verschleppten zurückbringen, die immer noch von der Hamas festgehalten werden.«

Netanjahu bestätigt, dass er Philadelphi-Route bevorzugt

Bei der »Entscheidung« bezog sich Gallant auf eine Abstimmung zur sogenannten Philadelphi-Route. Gallant stimmte dagegen und warf Premierminister Benjamin Netanjahu vor, die Stationierung von IDF-Soldaten an der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten einem Abkommen zur Befreiung der Geiseln vorzuziehen, berichteten verschiedene israelische Medien. Netanjahu bestätigte, dass er dies bevorzuge und wies Gallant zurecht, der daraufhin die Fassung verlor und geschrien haben soll: »Er kann auch entscheiden, alle Geiseln zu töten.«

Als Reaktion wetterte der rechtsextreme Finanzminister Bezalel Smotrich, der sich gegen jegliche Vereinbarung mit der Hamas ausspricht, Gallants Forderung sei ein »Kapitulationsdeal«. Stabschef Herzi Halevi hatte während der Diskussion mehrfach darauf hingewiesen, dass die Route auch nach einem Geiseldeal wiedereingenommen werden könne.

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Nach dieser Auseinandersetzung hatten Familien von Geiseln vor dem israelischen Verteidigungsministerium in Tel Aviv eine Notstandserklärung abgegeben. Sie beschuldigten Netanjahu und sein Sicherheitskabinett, den Korridor entlang der Grenze in ein »Massengrab für die Geiseln« zu verwandeln. Zur selben Zeit nannte Oppositionsführer Yair Lapid die Philadelphi-Route »Netanjahus neue Ausrede«. Er fügte hinzu: »Die Philadelphi-Route hat 20 Jahre gewartet. Die Geiseln können nicht warten, ihre Zeit läuft ab.«

»Die Philadelphi-Route hat 20 Jahre gewartet. Die Geiseln können nicht warten, ihre Zeit läuft ab.«

Am folgenden Tag schloss er sich den Forderungen nach einem Generalstreik an mit den Worten: »Netanjahu und das Todeskabinett haben sich entschieden, die Geiseln nicht zu retten. Ich rufe die Gewerkschaften, Arbeitgeber und lokale Behörden auf, die Wirtschaft stillzulegen.«   

Das Israel Business Forum, das Arbeitnehmer aus 200 der größten Unternehmen des Landes vertritt, gab eine Erklärung heraus: »Wir schließen uns dem Protest der Familien der Geiseln an und rufen die gesamte Öffentlichkeit dazu auf, nicht gleichgültig zu bleiben, wenn die Entführten im Stich gelassen werden, obwohl sie nach Ansicht des gesamten Sicherheitssystems hätten gerettet werden können.«

Ob es einen Generalstreik gibt, werde man später verkünden

Neben dem Sicherheitschaos stehe Israel vor einem wirtschaftlichen Chaos ohne vernünftigen Staatshaushalt, einem Streik im Bildungssystem und dem Zusammenbruch der öffentlichen Dienste, schrieb die Wirtschaftsvereinigung noch. Ob und wann es einen Generalstreik geben werde, wolle man nach Beratungen gemeinsam verkünden.

Netanjahu schrieb am Mittag, dass er die tiefe Trauer der Familien, teile und wandte sich dann an die Terroristen, die den »Preis zahlen« werden. »Wir werden nicht ruhen und nicht schweigen. Wir werden euch verfolgen, wir werden euch finden und wir werden mit euch abrechnen. Israel kämpft an allen Fronten gegen einen brutalen Feind, der uns alle ermorden will.« Stunden zuvor hatte ein palästinensischer Attentäter drei israelische Polizisten ermordet.

Netanjahu versicherte, dass die Bemühungen, die Geiseln zu befreien, ununterbrochen weitergingen und fügte hinzu: »Seit Dezember weigert sich die Hamas, echte Verhandlungen zu führen. Am 27. Mai stimmte Israel mit Unterstützung der USA einem Abkommen zu. Die Hamas lehnte ab. Auch nachdem die USA am 16. August den Rahmen aktualisiert hatten, stimmten wir zu, und die Hamas lehnte ab. In den letzten Tagen, während Israel in einem äußersten Bemühen, ein Abkommen zu erzielen, intensive Verhandlungen mit den Vermittlern führte, lehnte die Hamas weiterhin alle Vorschläge standhaft ab. Wer Geiseln ermordet, will kein Abkommen.«  

»Sie standen auf den Anfang Juli ausgehändigten Listen, Hersh Goldberg-Polin wegen der Verletzung an seiner Hand, Carmel Gat und Eden Yerushalmi, weil sie Frauen sind.«

Einer israelischen Quelle zufolge hätten drei der sechs Geiseln, deren Leichen aus Gaza geborgen wurden, in der ersten Phase des Abkommens freigelassen werden sollen. Derzeit wird weiter in Kairo darüber verhandelt. »Sie standen auf den Anfang Juli ausgehändigten Listen, Hersh Goldberg-Polin wegen der Verletzung an seiner Hand, Carmel Gat und Eden Yerushalmi, weil sie Frauen sind. Es war möglich, sie lebend zurückzuholen«, so die Quelle.

Vor wenigen Tagen hatte das israelische Verteidigungsministerium der Regierung die Einschätzung vorgelegt, dass die Hamas ihren Wachen befohlen habe, Geiseln zu töten und zu fliehen, wenn sich ihnen IDF-Truppen nähern. Weiter hieß es, dass einige der Geiseln möglicherweise nie gefunden werden, wenn die Wachen auf der Flucht von den IDF getötet werden. Das tragische Schicksal der sechs Israelis bestätigt diese Gefahr offenbar.

»Wir haben sie im Stich gelassen«, resümiert Daniel Lifshitz. »Sie hätten schon bald bei uns sein können, wenn der Druck auf die verhandelnden Parteien – auf alle, die Hamas, die israelische Regierung, Katar und Ägypten – größer gewesen wäre. Es ist jetzt noch klarer: »Wir können nicht mehr warten.«

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