Jerusalem

Corona-Chaos

Maske als Protest: Viele Strengreligiöse lehnen die Corona-Maßnahmen der Regierung ab. Foto: Flash 90

Mehr als 1000 leere Stühle, jeder mit einer roten Rose versehen. Mit dieser Installation auf dem Rabinplatz in Tel Aviv macht die Organisation »Standing Together« auf die mehr als 1000 Toten durch Covid-19 in Israel aufmerksam und fordert eine Untersuchung des »Missmanagements der Regierung«. Obwohl die Zahlen der Neuinfektionen nach wie vor steigen, laufen die Maßnahmen zur Eindämmung derzeit alles andere als koordiniert. Politische Streitereien behindern den effektiven Kampf gegen das Virus.

Am Dienstag hatten die Neuinfektionen mit 3496 die höchste Zahl seit Beginn der Pandemie erreicht. Unterdessen rufen sogar Oppositionspolitiker die Bevölkerung auf, sich nicht an die Regeln zu halten. Der Chef der Partei Israel Beiteinu, Avigdor Lieberman, schlug vor, man solle besser den gesunden Menschenverstand nutzen. »Netanjahu hat die öffentliche Gesundheit geopfert, um seine Koalition zusammenzuhalten. Jede Entscheidung ist daher offenkundig illegal.« Premierminister Benjamin Netanjahu nannte die Aussagen »gefährlich und unverantwortlich«.

»AMPEL-PLAN« Dabei hatte es vor einigen Tagen noch nach einem Konsens ausgesehen. Das sogenannte Corona-Kabinett, das aus Ministerien mit direktem Bezug zur Pandemie zusammengesetzt ist, nahm den Plan des Corona-Beauftragten Ronni Gamzu an. Der »Ampel-Plan« sieht vor, alle 250 Orte des Landes in Farben aufzuteilen und entsprechende Maßnahmen umzusetzen. Am vergangenen Sonntag hätte er implementiert werden sollen.

»Jeder Bewohner wird die Farbe seiner Stadt kennen«, erläuterte Gamzu, der sich am Dienstag in die Selbstisolierung begab, nachdem einer seiner Mitarbeiter positiv getestet worden war. Ebenso gingen Gesundheitsminister Yuli Edelstein und weitere hochrangige Angestellte des Ministeriums in Quarantäne.

Der Corona-Beauftragte Ronni Gamzu und Gesundheitsminister Yuli Edelstein begaben sich in Quarantäne.

Gamzu sagte weiter, die Bekämpfung des Coronavirus werde von Jerusalem an die städtischen Behörden übergeben. Entsprechend mehrerer Faktoren, darunter die Zahl der Neuinfektionen, der Positivmeldungen bei Tests und Patienten in Krankenhäusern sollen die Orte als rot, orange, gelb oder grün bestimmt werden.

Die Maßnahmen reichen von Beschränkungen für Zusammenkünfte in geschlossenen Räumen bis zum vollständigen Lockdown. Der Plan unterscheidet auch zwischen verschiedenen Bereichen des öffentlichen Lebens wie Schulen, Verkehr, Arbeitsplätzen, Veranstaltungen, Einkaufszentren, Naturparks und Museen.

Nachdem die Abstimmung über den Plan wochenlang verschoben worden war, hatten sich letztendlich Innenminister Arie Deri (Schas) und Verteidigungsminister Benny Gantz (Blau-Weiß) dafür ausgesprochen. Doch schon zu diesem Zeitpunkt hatte sich Uneinigkeit abgezeichnet, als einige Minister dafür stimmten, dass die Schulen auch in roten Gemeinden geöffnet werden.

Einige Tage später dann wurde veröffentlicht, dass in 40 Städten mit besonders hohen Infektionszahlen Lockdowns durchgesetzt werden sollen. Doch dazu kam es nicht. Gamzu hatte die Rechnung ohne die lokalen Behörden gemacht.

Nachdem die Bürgermeister von vier vornehmlich ultraorthodoxen Orten einen wütenden Brief an Premier Netanjahu geschickt hatten und drohten, ihm die politische Unterstützung zu entziehen, gab der nach.

AUSGANGSSPERREN Statt der ursprünglich vorgesehenen Lockdowns galten seit Dienstagabend lediglich nächtliche Ausgangssperren von 19 Uhr bis 5 Uhr morgens. Nicht notwendige Geschäfte bleiben in dieser Zeit geschlossen, Bildungseinrichtungen dürfen gar nicht öffnen. 1,3 Millionen Israelis durften in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch ihre Häuser nur im Ausnahmefall verlassen und weder in Restaurants noch in Bars oder Synagogen gehen.

»Die Infektionsrate in den ›roten Städten‹ ist eine der höchsten in der Welt«, erläuterte Gamzu.« ›Und sogar die Raten in den ›grünen Orten‹ sind hoch. Wir müssen agieren, um unser Volk zu schützen.« Er verstehe die Schwierigkeiten mit den neuen Restriktionen. »Ich weiß, dass es Wut und Frustration gibt, die sich gegen mich richten. Aber ich muss loyal zur professionellen Wahrheit bleiben.«

Der Bürgermeister von Beitar Illit beklagte »Diskriminierung der Ultraorthodoxen«.

Gamzu forderte die Israelis in den »nicht roten Zonen« auf, sich solidarisch zu erklären und ebenfalls die Bewegung in der Nacht zu limitieren. Doch der Bürgermeister der charedischen Stadt Beitar Illit im südlichen Westjordanland kündigte bereits an, dass sich seine Gemeinde nicht an die Regeln halten werde. Als Grund nannte er »Diskriminierung der Ultraorthodoxen«. In Jerusalem sind neun Viertel, alle religiös oder arabisch, betroffen.

JESCHIWA-STUDENTEN Nach seiner Auseinandersetzung mit dem prominenten Rabbiner Chaim Kanievsky forderten viele seine Entlassung. Gamzu meinte, Kanievsky gefährde mit seinen Anweisungen die ultraorthodoxe Gemeinde. Doch am Dienstag entschuldigte sich der Gesundheitsexperte für das »Missverständnis« und sagte: »Nach einer Untersuchung habe ich herausgefunden, es trifft nicht zu, dass Rabbiner Kanievsky Jeschiwa-Studenten aufforderte, Corona-Tests zu verweigern.«

Kanievsky habe sich, statt eine allgemeine Anweisung zu geben, auf bestimmte Fälle bezogen, so Gamzu weiter. Hierbei handele es sich um Studenten, die bereits getestet und in »Studien-Kapseln« isoliert waren. Einige Medien, darunter Fernsehkanal 12, zitierten jedoch Quellen, die bestätigen, der Rabbiner habe sich sehr wohl gegen das allgemeine Testen von erwachsenen Jeschiwa-Studenten ausgesprochen.

Im März hatte Kanievsky durch einen Sprecher erklären lassen, dass »die Lehrzimmer offen bleiben, denn Tora-Studien abzusagen, ist gefährlicher als das Coronavirus«. Später zog er diese Aussage zurück, doch viele nennen sie als Grund für die überdurchschnittlich hohen Infektionsraten in charedischen Gemeinden, darunter in der Heimatstadt Kanievskys, Bnei Brak. Die Entschuldigung Gamzus wird als Versuch gewertet, ultraorthodoxe Israelis auf seine Seite zu ziehen und den Widerstand gegen die Maßnahmen zu mildern.

OFFENER BRIEF Derweil wird die Opposition gegen die Corona-Politik der Regierung auch innerhalb der akademischen Gemeinschaft immer lauter. Dutzende von israelischen Ärzten und Wissenschaftlern sprachen sich in einem offenen Brief an die Regierung gegen einen weiteren nationalen Lockdown aus. Mit dabei der Professor für Computerwissenschaft an der Hebräischen Universität in Jerusalem, Amnon Shashua, Nobelpreisträger und Chemieprofessor Michael Levitt, der Professor für innere Medizin, Eitan Friedman, und andere.

Ärzte und Wissenschaftler forderten, das »schwedische Modell« mit gewissen Anpassungen in Israel anzuwenden.

Die Unterzeichner schlagen statt eines Lockdowns einen besseren Schutz von gefährdeten Gruppen vor, hauptsächlich Ältere und Kranke. Sie fordern, das »schwedische Modell« mit gewissen Anpassungen in Israel anzuwenden. Dort hatte man auf einen Lockdown verzichtet und die Bürger aufgefordert, freiwillig soziale Distanz anzuwenden. Anfangs waren die Infektionszahlen in Schweden zwar viel höher als in anderen skandinavischen Ländern, doch in den vergangenen zwei Monaten ist die Rate gesunken, ohne Anzeichen für eine zweite Welle.

Die Petition kommt kurz vor den Hohen Feiertagen, für die in der Politik nach wie vor eine landesweite Quarantäne debattiert wird. »Ein Lockdown stoppt die Pandemie nicht. Er verlangsamt nur die Ausbreitung geringfügig und vorübergehend«, heißt es in dem Brief. »Wenn die Restriktionen aufgehoben werden, geht die Verbreitung des Virus weiter. Doch dann ist die Bevölkerung des Landes emotional, wirtschaftlich und vor allem gesundheitlich geschwächt.«

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