Die Stimmen werden immer lauter: Während große Teile der Welt weiterhin Lockdowns, No-Covid-Strategien oder Impfpflichten in Erwägung ziehen, überlegt man in Israel, wie man mit dem Coronavirus leben kann – ein normales Leben ohne extreme Einschränkungen. Und das, obwohl die Zahl der Neuinfektionen weiterhin in die Höhe schnellt.
Es ist zu spüren, dass man mittlerweile eher über das »Danach« als das »Mittendrin« sinniert. Fragt man die Menschen, ist oft der Tenor, dass man endlich nach vorn blicken müsse. Ein Interview im israelischen Fernsehkanal 12 mit dem Chef des Pharmakonzerns Pfizer, Albert Bourla, bestätigt das. Er sagte am Wochenbeginn voraus, dass die Welt innerhalb weniger Monate zu nahezu normalen Bedingungen zurückkehren wird.
Es ist zu spüren, dass man mittlerweile eher über das »Danach« als das »Mittendrin« sinniert.
Sein Unternehmen strebe an, einen Impfstoff herzustellen, der einmal im Jahr verabreicht werde und alle Coronavirus-Varianten abdeckt. »Einmal im Jahr ist es einfacher, die Leute davon zu überzeugen. Es ist für die Menschen auch leichter, sich daran zu erinnern. Für die Lage der öffentlichen Gesundheit ist es eine ideale Lösung. Wir prüfen, ob wir einen Impfstoff entwickeln können, der Omikron abdeckt und die anderen Varianten nicht vergisst.«
Denn das Virus werde nicht ausgerottet, sondern uns noch viele Jahre begleiten, so Bourla. Während Pfizer derzeit an einem Impfstoff gegen die Omikron-Variante arbeite, gehe man gleichsam davon aus, dass es mehr Varianten geben wird. »Dieses Virus hat die Tendenz, neue Varianten zu schaffen und sich dem Immunschutz zu entziehen. Ob durch Impfstoffe oder natürliche Schutzmaßnahmen.«
Regierung Die israelische Regierung unter Premierminister Naftali Bennett hat seit ihrer Amtsübernahme im vergangenen Juni klargemacht, dass sie weder Lockdowns noch andere extreme Maßnahmen innerhalb der eigenen Grenzen vorsehe. Stattdessen riegelte man das Land ab und setzte auf intensives Testen sowie ein Ausweiten der Impfungen.
Erst am Dienstag riet ein Expertenteam, das das Gesundheitsministerium berät, Israelis ab 18 Jahren eine vierte Impfung anzubieten, unter der Bedingung, dass fünf Monate seit der dritten Spritze oder einer Genesung vergangen sind. Das Gremium zitierte Daten, die zeigen, dass eine vierte Dosis die Widerstandsfähigkeit von Menschen gegen eine schwere Erkrankung, im Vergleich zu jenen, die dreimal geimpft sind, um ein Dreifaches erhöht.
Derzeit bewegt sich Omikron noch wie ein Lauffeuer durch das Land. Am Montag gab das Gesundheitsministerium mehr als 83.000 bestätigte Tests bekannt, die Positivrate liegt bei über 22 Prozent. In den vergangenen zwei Wochen hatten sich mehr als 850.000 Israelis mit Covid-19 infiziert.
Die meisten Experten sehen den Höhepunkt der Neuinfektionen erreicht.
Die meisten Experten sehen dies als den Höhepunkt und rechnen in den kommenden Tagen mit einem Abflauen. Vor allem stützt sich Jerusalem dabei auf Angaben aus anderen Ländern, wie Südafrika und Großbritannien, die die Welle der höchstansteckenden Variante bereits hinter sich haben. Die Zahl der schwer Erkrankten werde allerdings erst mit einer zweiwöchigen Verzögerung sinken.
Erkrankungen Eran Rotman, Direktor des Beilinson-Krankenhauses, erklärte in einem Interview, dass sich eine schwere Erkrankung durch Omikron von Varianten während früherer Wellen unterscheidet. »Die schwerkranken Patienten weisen kein für Delta oder Alpha charakteristisches Krankheitsbild auf. Es ist eher wie bei den älteren chronisch kranken Patienten, die wir jeden Winter sehen. Es gibt fast keine Fälle von dramatischen Verschlechterungen innerhalb von Stunden, bei denen die Patienten vor unseren Augen zusammenbrechen.«
Seit Donnerstag müssen Schulkinder, ob geimpft oder nicht, die mit einer Corona-positiven-Person in Kontakt gekommen waren, nicht mehr in Quarantäne. Stattdessen setzt die Regierung unter Premierminister Naftali Bennett auf Testen. Fallen die Antigen-Heimtests negativ aus, dürfen die Schüler weiter am Unterricht teilnehmen. »Kinder kehren zur Kontinuität in der Schulbildung zurück«, sagte der Premier während einer Fernsehansprache. Medizinische Experten hätten festgestellt, dass man sich bei den jungen Menschen »auf ausreichend sicherem Boden befände, um die Maßnahme zu rechtfertigen«. Die Heimtests werden kostenlos zur Verfügung gestellt.
Israel hatte zuvor die Quarantäne bereits von sieben auf fünf Tage verkürzt. Gemäß der Richtlinie müssen infizierte Personen am vierten und fünften Tag nach ihrer Diagnose zwei Antigentests zu Hause durchführen und können die Isolation nach dem fünften Tag verlassen, solange die Tests negativ und sie symptomfrei sind.
heimisolierung Die Quarantänepolitik war in den vergangenen Wochen in die Kritik geraten, weil sie Scharen asymptomatischer Israelis, die negative Testergebnisse erhalten hatten, tagelang in Heimisolierung schickte.
Das Gesundheitswesen ist durch einen gravierenden Personalmangel wegen Quarantäne und Erkrankung derzeit extrem belastet. Fast 10.000 medizinische Mitarbeiter befinden sich in Isolation, darunter 1380 Ärzte sowie knapp 3000 Krankenschwestern und -pfleger.
Israel hat die Quarantäne bereits von sieben auf fünf Tage verkürzt.
Auch im Schulbereich gibt es ein Problem: Am Wochenbeginn waren landesweit mehr als 100.000 Schulkinder in Quarantäne, eine deutlich höhere Zahl als in früheren Wellen. Lehrer berichten über halb leere Klassenzimmer.
Bildungsministerin Yifat Shasha-Biton machte sich für die Forderungen nach einer Lockerung stark und bat, »die Quarantäne für gesunde Kinder sofort zu begrenzen«. 250 Schulleiter schrieben zudem einen Brief, in dem sie die »psychischen Kosten« von Unterbrechungen des Lernens im Präsenzunterricht bezeugten, und forderten, auch ungeimpfte Kinder von der umfassenden Quarantäneregelung auszunehmen.
mediziner Die israelische Vereinigung von Medizinern für die öffentliche Gesundheit geht sogar noch weiter. Sie empfiehlt, bestätigte Coronavirus-Patienten nur dann in Isolation zu schicken, wenn sie Symptome aufweisen, zu einer Hochrisikogruppe gehören oder mit stark gefährdeten Bevölkerungsgruppen in Kontakt kommen.
Auch die Leiterin der Anästhesie und Intensivmedizin des Ichilov-Krankenhauses in Tel Aviv, Professorin Idit Matot, fordert, asymptomatische Patienten von einer Quarantäne auszunehmen.
Das Gesundheitsministerium erklärte dazu, es unternehme »enorme Anstrengungen, um die Sicherheit der Öffentlichkeit zu gewährleisten«. Derartige Aussagen würden jedoch eine unverantwortliche Diskussion schaffen, »die darauf abzielt, das Vertrauen der Öffentlichkeit zu untergraben«. Die Quarantäne gänzlich abschaffen will Jerusalem also nicht. Noch nicht.