Krieg

Angst im Ausland

»Ich war nie in Gaza, aber ich habe regelrecht Panik bekommen«, sagt eine Reservistin. Foto: Flash90

Die Angst geht um unter den Israelis. Viele fragen sich, ob sie überhaupt noch unbehelligt ins Ausland reisen können. Dem Außenministerium in Jerusalem sind mindestens zwölf Fälle bekannt, in denen in verschiedenen Ländern Beschwerden gegen Soldaten der israelischen Armee eingereicht wurden. Ihnen werden »Kriegsverbrechen in Gaza« vorgeworfen.

Channel 12 berichtete am Sonntag, dass Israelis von heimischen Behörden aufgefordert worden seien, bestimmte Länder zu verlassen, um einer möglichen Strafverfolgung zu entgehen – wie das jüngste Beispiel in Brasilien zeigt. Anfang vergangener Woche war bekannt geworden, dass ein israelischer Reservist nur knapp einer Verhaftung in dem südamerikanischen Land entgehen konnte. Nach Berichten des öffentlich-rechtlichen Senders Kan und israelischer Zeitungen habe ein brasilianisches Bundesgericht eine Untersuchung gegen einen Touristen angeordnet, der in der israelischen Armee (IDF) gedient hat.

Mutmaßliche Aktivitäten

Die in Belgien ansässige Hind-Rajab-Stiftung habe dem Gericht Unterlagen über die mutmaßlichen Aktivitäten des Soldaten im Gaza-Krieg vorgelegt, heißt es. Der Reservist hatte 2023 das Massaker der Hamas auf dem Nova-Musikfestival am 7. Oktober 2023 überlebt, bei dem mehr als 360 Menschen auf brutalste Weise ermordet worden waren.

Angehörige des jungen Mannes sagten dem Sender Kan, dass dieser Brasilien habe verlassen können, bevor rechtliche Schritte gegen ihn eingeleitet wurden. Dabei habe er Hilfe »von relevanten Akteuren erhalten«. Er sei eine Woche zuvor in Brasilien eingetroffen.

»Dass ein Reservist aus Brasilien fliehen musste, ist ein riesiges politisches Versagen.«

Yair Lapid

Die brasilianische Regierung habe nach der Aufforderung der Hind-Rajab-Stiftung beschlossen, Maßnahmen zu ergreifen. Laut einem Bericht in der brasilianischen Zeitung »Metropoles« erklärte eine Anwältin, dass Ermittlungen eingeleitet wurden, weil Brasilien Unterzeichner des Römischen Statuts ist. »Jedes Land, das das Statut unterzeichnet hat, ist verpflichtet, sicherzustellen, dass Vergehen wie Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermord untersucht und ihre Täter vor Gericht gestellt werden«, führte sie aus.

Diplomatische Krise

Ähnliche Beschwerden seien in Sri Lanka, Thailand, Belgien, den Niederlanden, Serbien, Irland und Zypern eingereicht worden, heißt es aus dem israelischen Außenministerium. In den meisten Fällen sei es aber zu keiner Untersuchung gekommen, berichtet Channel 12. Auch sei bisher niemand festgenommen worden. Allerdings hätte der Vorfall in Brasilien fast zu einer diplomatischen Krise geführt.

Auch wurde berichtet, dass der Generalanwalt des Militärs, das Außenministerium, der Nationale Sicherheitsrat und der Inlandsgeheimdienst Schin Bet eine gemeinschaftliche Stelle eingerichtet haben, um rechtliche Bedrohungen für Soldaten im Ausland zu untersuchen. »Wir machen Israelis auf Beiträge in sozialen Medien über ihren Militärdienst aufmerksam und auf die Tatsache, dass anti-israelische Elemente diese Posts ausnutzen könnten, um Gerichtsverfahren gegen sie einzuleiten«, hieß es in einer Erklärung aus dem Außenministerium.

Oppositionsführer Yair Lapid übte anschließend scharfe Kritik an der Regierung in Jerusalem: »Die Tatsache, dass ein israelischer Reservist gezwungen war, mitten in der Nacht aus Brasilien zu fliehen, um einer Verhaftung wegen Kämpfen in Gaza zu entgehen, ist ein riesiges politisches Versagen einer verantwortungslosen Regierung, die einfach nicht weiß, wie man arbeitet.« Es könne nicht sein, »dass israelische Soldaten – sowohl reguläre Soldaten als auch Reservisten – Angst haben, ins Ausland zu reisen, weil sie befürchten, verhaftet zu werden«, fügte Lapid hinzu. Eine staatliche Untersuchungskommission würde Israelis Rechtsschutz gewähren, machte er klar. Doch die Regierungskoalition verweigert kategorisch eine Untersuchung der Versäumnisse vor dem 7. Oktober.

Einer Umfrage von Channel 12 zufolge unterstützen 79 Prozent der Israelis eine staatliche Untersuchungskommission. Der Premierminister hat sich wiederholt gegen die Einsetzung einer derartigen Kommission ausgesprochen und argumentiert, dass Untersuchungen erst nach dem Ende des Krieges eingeleitet werden sollten. Kritiker sind überzeugt, Netanjahu versuche, die Verantwortung für die Geschehnisse von sich zu weisen.

Rechtliches Risiko

»Moms Up«, eine Gruppe von Müttern israelischer Soldaten, schrieb nach dem Fall in Brasilien an Premierminister Benjamin Netanjahu und den Stabschef der israelischen Streitkräfte: »Wir sehen Sie als die alleinigen Verantwortlichen dafür, das rechtliche Risiko für unsere Kinder zu beseitigen.« Weiter hieß es, das israelische Militär sei »gezwungen, in einem politischen Vakuum und unter dem Druck extremistischer Gruppen zu operieren, ohne den lebenswichtigen Rechtsschutz, der seine Soldaten vor böswilligen Akteuren weltweit« schützen würde.

Oft werden Soldaten über ihre sozialen Netzwerke identifiziert. Yuval Kaplinski, ehemaliger Leiter der internationalen Abteilung der Staatsanwaltschaft, sagte dem Sender: »Wenn ein Soldat ein Video postet, in dem man zerstörte Häuser sieht, oder die Zerstörung von Häusern postet und sagt: ›Wir werden alle Häuser in Gaza in die Luft sprengen, Zivilisten töten und uns dort niederlassen oder ganz Gaza und alle Einwohner Gazas zerstören‹, erklärt er im Wesentlichen, dass er ein Kriegsverbrechen begeht.« Anders als in der Vergangenheit hätten Aktivistengruppen keine hochrangigen Offiziere und Politiker, sondern einfache Soldaten im Visier.

»Manchmal habe ich das Gefühl, dass die Welt verrückt geworden ist.«

Reservistin B.

M. ist Reservist, der in Gaza und im Libanon gedient hat. Nach fast einem Jahr der Einsätze ist er erschöpft. »Ich hatte mir vorgenommen, mit meiner Freundin zwei Wochen Urlaub zu machen. Einfach die Seele baumeln lassen und an nichts denken. Wir wollten nach Thailand.« Doch nun traut M. sich nicht. Zwar habe er sich nichts vorzuwerfen und auch nichts von seinem Armeeeinsatz öffentlich gepostet, aber er habe Sorge, dass dennoch an die Öffentlichkeit gedrungen sein könnte, dass er in Gaza gedient hat. »Und das ist ein wirklich ungutes Gefühl.«

Auch B. war Soldatin in der israelischen Armee. »Ich war nie in Gaza und in keiner Kampfeinheit. Aber ich war in der IDF, wie fast alle Israelis, denn es ist Pflicht in unserem Land.« Trotzdem habe sie sofort alle Bilder vom Armeedienst aus ihren sozialen Netzwerken gelöscht und ihr Profil auf »privat« eingestellt, als sie von der Geschichte in Brasilien hörte.

»Ich will nicht paranoid sein, aber ich habe regelrecht Panik bekommen.« Sie gibt zu, dass es möglicherweise eine Überreaktion gewesen sei, aber B. hat echte Angst. »Bei dem wachsenden Antisemitismus in vielen Ländern weiß ich nicht, was mir dort angehängt werden könnte. Ich liebe es zu reisen und sehe mich als Weltbürgerin. Doch manchmal habe ich das Gefühl, dass die Welt verrückt geworden ist.«

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