Zentralrats-Bildungsabteilung

»Anerkennung auf Augenhöhe«

Mit einem Vortrag über Minderheiten in Israel wird die Reihe »Wissenschaft zuhause« fortgesetzt

von Ingo Way  03.06.2021 17:40 Uhr

Glücklich angekommen: äthiopische Neueinwanderin mit ihrer Tochter in Israel (Archiv) Foto: Flash 90

Mit einem Vortrag über Minderheiten in Israel wird die Reihe »Wissenschaft zuhause« fortgesetzt

von Ingo Way  03.06.2021 17:40 Uhr

Das Thema stand schon lange fest, bevor es im Windschatten der Raketen aus Gaza im Mai auch zu Aufständen arabischer Israelis kam. Mit dem Thema »Minderheiten in Israel« wurde die digitale Vortragsreihe »WISSENSCHAFT ZUHAUSE/MADA BA-BAYIT« der Bildungsabteilung im Zentralrat der Juden in Kooperation mit der Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg (HfJS) nun fortgesetzt.

Der Untertitel des Vortrags von Johannes Becke, Inhaber des Ben-Gurion-Lehrstuhls für Israel- und Nahoststudien an der HfJS, wurde im Zuge der jüngsten Entwicklungen jedoch von »Nichtjüdisches Leben im jüdischen Staat« in »Zwischen Konflikt und Normalisierung« geändert und gleichsam zugespitzt.

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Becke verwies in einem historischen Überblick darauf, dass Konflikte zwischen Mehr- und Minderheiten sich nicht auf Israel beschränken, sondern den gesamten Nahen Osten betreffen. Mit dem Zerfall des Osmanischen Reiches, eines »multiethnischen, multireligiösen Imperiums« und der Entstehung moderner Nationalstaaten kam es vielerorts zur Unterdrückung von Minderheiten innerhalb der neuen Staatsgrenzen; es kam zu Völkermorden wie an den Armeniern, Vertreibungen, den Exodus von Europäern und einheimischen Christen. Bisweilen regiert auch eine Minderheit über die Mehrheit, wie etwa in Syrien.

PALÄSTINISIERUNG In Israel besteht die größte nationale Minderheit natürlich aus muslimischen Arabern, unter denen, so Becke, im Zuge der Ausdehnung des israelischen Staates in die besetzten Gebiete so etwas wie eine »Palästinisierung« stattgefunden hat: Durch vermehrten Kontakt mit Palästinensern im Westjordanland übernahmen viele arabische Israelis Symbole und Ideen der palästinensischen Nationalbewegung, wie etwa die Idee eines »Rückkehrrechts«.

Manche Minderheiten spielen in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle.

Daneben, betonte Becke, gebe es aber noch zahlreiche kleinere Minderheiten wie etwa die Drusen oder Beduinen, aber auch solche, die in der öffentlichen Wahrnehmung kaum eine Rolle spielen.

So etwa die Tscherkessen, die zwar Muslime, aber keine Araber sind und vor allem in zwei Dörfern, Kfar Rama und Rehaniya, leben; oder die Aramäer, die erst seit 2014 als eigene Bevölkerungskategorie anerkannt sind und sich als Christen von den christlichen Palästinensern abgrenzen. Daneben gebe es noch etwa 200.000 Gastarbeiter, von denen 60 Prozent aus Asien stammen, sowie circa 40.000 afrikanische Flüchtlinge. Beide Gruppen hätten kaum Chancen, die israelische Staatsbürgerschaft zu erlangen.

SELBSTBESTIMMUNG Zu Konflikten, auf die der Untertitel des Vortrags verwies, kam es im Jahr 2018, als das umstrittene Nationalstaatsgesetz verabschiedet wurde. Zwar gab es durch dieses Gesetz »kaum einen Eingriff in den Status quo«, wie Becke betonte, dennoch sei es »Teil einer rechtspopulistischen Kampagne« gewesen. Im Wortlaut des Gesetzes klinge vieles nach der israelischen Unabhängigkeitserklärung, neu sei jedoch die Formulierung, dass das Recht auf nationale Selbstbestimmung ausschließlich vom jüdischen Volk ausgeübt wird.

»Man kann sagen, das ist nicht sehr überraschend, Israel versteht sich nun mal als jüdischer und demokratischer Staat«, so Becke. »Es muss aber offenbar betont werden, dass Israel eben kein binationaler Staat ist wie die Schweiz, Belgien oder Kanada. Es mag Minderheiten geben, es gibt aber keine Form der teilweisen Souveränität oder Selbstbestimmung.« Proteste gegen das Gesetz gab es seinerzeit vor allem von Drusen, die ihre Loyalität zum Staat infrage gestellt sahen, obwohl sie in der Armee dienen.

Für Ärger sorge bisweilen auch, dass sich nationalreligiöse Israelis oft gezielt in historisch arabisch geprägten Stadtvierteln ansiedeln, nicht nur in Jerusalem, sondern auch in Jaffa oder Lod, wo es im Mai zu Ausschreitungen kam. Diese nationalreligiöse Siedlungspolitik sei durchaus auch in säkular-jüdischen Ortschaften wie etwa Givatayim umstritten.

Einen weiteren Punkt sprach Becke an: »Wir müssen in den letzten zehn Jahren über ein Polizeiversagen sprechen, da die Polizei in den arabischen Regionen sehr wenig präsent ist. Es gibt eine wahnsinnige Anzahl an nicht aufgeklärten Todesfällen unter arabischen Israelis.« Dieses Polizeiversagen habe sich auch bei den gewalttätigen Auseinandersetzungen im Mai gezeigt, wo die Polizei erst sehr spät präsent gewesen sei.

NORMALISIERUNG Dennoch gebe es auch Anzeichen für eine jüdisch-arabische Normalisierung: »In den letzten sieben Jahren wuchs die Zahl arabischer Studenten um 78 Prozent. 25 Prozent der Jiddischstudenten an der Bar-Ilan-Universität sind arabisch. Und acht Prozent der arabischen Schüler besuchen mittlerweile jüdisch-hebräische Schulen.«

Zudem fänden sich im israelisch-arabischen Dialekt immer mehr hebräische Sprachelemente. Zwei Drittel der arabischen Israelis hätten ein positives Bild von ihrer Staatsangehörigkeit und ihren Lebensverhältnissen. Die Themen, die sie aber umtrieben, seien Kriminalität, Gewalt (auch vonseiten der Polizei), Rassismus und Diskriminierung.

Der medizinische Bereich bietet vielen arabischen Israelis Karrierechancen.

Doron Kiesel, Wissenschaftlicher Direktor der Bildungsabteilung, der die Veranstaltung moderierte, wollte in diesem Zusammenhang wissen, warum arabische Israelis gerade im medizinischen Bereich auffallend präsent seien. »Das Medizinstudium lohnt sich, weil es einen unmittelbaren Beruf erschließt«, erläuterte Becke. »Es ist eine Karriere, für die man keine militärischen Netzwerke haben muss, anders als etwa im Hightech-Bereich. Für Medizin oder Pharmazie muss man nicht gedient haben.«

Als Lösungsansätze für Probleme im jüdisch-arabischen Zusammenleben präsentierte Becke mehrere Punkte. Zum einen müsse der Arabischunterricht an jüdischen Schulen verbessert werden. »Arabische Umgangssprache wird bis heute an hebräischen Schulen eigentlich nicht unterrichtet. Die Leute können zwar arabische Zeitungen lesen, aber nicht auf dem Markt einkaufen.«

LEGITIMIERUNG »Der zweite Punkt findet gerade statt: die zunehmende Legitimierung von jüdisch-arabischen Koalitionen für die Regierungsbildung – ein Tabu, das ausgerechnet von der Rechten ausgeräumt wurde«, indem nämlich zunächst der Likud in Verhandlungen mit der islamischen Partei Raam eingetreten war, die jetzt mit anderen linken und rechten Parteien Teil der zukünftigen Regierungskoalition ist.

Große Hoffnung setzt Becke auch auf den »Ausbau von zivilgesellschaftlichen Beziehungen im Nahen Osten im Rahmen der Abraham-Abkommen«. Reisen von Israelis nach Marokko oder in die Vereinigten Arabischen Emirate seien bereits jetzt möglich, weitere Länder könnten folgen.

Mit Raam ist erstmals eine arabische Partei Teil einer Regierungskoalition.

Beckes optimistisches Fazit: »Die Verbesserung der jüdisch-arabischen Beziehungen in Israel ist deutlich leichter als die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts.« Dazu brauche es allerdings eine »Gesamtstrategie«: mehr Polizeipräsenz, eine Sicherheitsstrategie unter anderem gegen organisierte Kriminalität im arabischen Sektor und Verbesserungen im Bildungswesen. »Das alles funktioniert nicht ohne eine gegenseitige Anerkennung auf Augenhöhe.«

aufstände Zum Abschluss kam Doron Kiesel aber doch noch einmal auf die gewaltsamen Aufstände vom Mai zu sprechen: »In Haifa, Akko oder Lod gab es ein erfolgreiches Zusammenleben. Im jüngsten Konflikt sind diese Muster auf einmal infrage gestellt worden. Der Konflikt entlud sich in Straßenkämpfen, zum Teil in Lynchaktivitäten.« Für Becke zeigen solche Szenen, »dass das, was wir als Koexistenz oder Zusammenleben beschreiben, nicht von allen so wahrgenommen wird«.

Dafür gebe es durchaus eine Reihe langfristiger Gründe, neben der mangelnden Polizeipräsenz oder der Frustration über nationalreligiöse Siedlungsprojekte in arabischen Vierteln etwa auch der Prozess der Gentrifizierung zum Beispiel in Jaffa. »Der Prozess der ideologischen und ökonomischen Verdrängung, den arabische Israelis sehr deutlich wahrnehmen, wurde von der jüdisch-israelischen Mehrheit lange Zeit nicht ernst genug genommen.«

Die Reihe »WISSENSCHAFT ZUHAUSE/MADA BA-BAYIT« wird demnächst fortgesetzt mit dem Vortrag »Hebräisch und Jiddisch – Eine schwierige Beziehung« von Viktor Golinets und Roland Gruschka (HfJS).

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