Gaza

Alltag im Raketenregen

Bilder einer Bus-Kamera: Fahrer Daniel Hazan erlebt am Dienstag, wie eine Rakete auf der Schnellstraße in der Nähe von Gan Yavneh bei Aschdod einschlägt. Foto: Screenshot: gov

Die Sirenen schrillten im Sekundentakt. Eine Million Schul- und Kindergartenkinder mussten am Dienstag zu Hause bleiben, die meisten Büros, Geschäfte und Restaurants waren geschlossen, als mehr als 220 Raketen aus Gaza auf Israel flogen. Die Terrororganisationen Hamas und Islamischer Dschihad hatten Vergeltung angekündigt, nachdem die israelische Armee (IDF) zuvor gemeinsam mit dem Inlandsgeheimdienst Schin Bet in einer gezielten Aktion einen hohen Funktionär des Islamischen Dschihad getötet hatte.

Nach einer relativ ruhigen Nacht gab das Heimatfrontkommando am Mittwochmorgen um 6.30 Uhr Entwarnung für das Zentrum: Schulen, Kindergärten und Arbeitsplätze öffneten regulär. Im Süden des Landes sowie in der Hafenstadt Aschkelon flogen die Raketen auch noch am Mittwochmittag, alle Bildungseinrichtungen blieben zu.

Nach Angaben des Magen David Adom gab es zu diesem Zeitpunkt seit dem Beginn der Raketenangriffe 49 Verletzte in Israel. Die meisten erlitten einen Schock oder verletzten sich, als sie sich in Sicherheit bringen wollten. Zwei Menschen wurden durch Raketenschrapnelle leicht verwundet.

KRIEG Laut IDF war der Angriff auf den Terroristen Baha Abu al-Ata durchgeführt worden, »um unmittelbar bevorstehende Attacken zu verhindern«. Er war Leiter der Al-Quds-Brigaden im Gazastreifen, dem bewaffneten Arm des Islamischen Dschihad. Auch seine Frau kam bei der Aktion ums Leben. Der Anführer der Brigaden erklärte, er wolle jetzt »gegen Israel in den Krieg ziehen«. Die Armee stelle sich auf mehrere Tage andauernde Kämpfe ein, heißt es aus Sicherheitskreisen.

Auch große Versammlungen waren am Dienstag untersagt, nur absolut notwendige Arbeiten durften verrichtet werden.

Auch große Versammlungen waren am Dienstag untersagt, nur absolut notwendige Arbeiten durften verrichtet werden, und nur dann, wenn sich ein Sicherheitsraum in erreichbarer Nähe befand. Züge im Zentrum und Süden verkehrten nicht. Es war das erste Mal seit 2014, dass das Heimatfrontkommando diese Maßnahmen in Tel Aviv durchsetzte.

Viele Straßen waren vor allem am Vormittag menschenleer; auf dem Carmelmarkt, auf dem sich sonst tagsüber Einheimische und Touristen tummeln, hatten fast alle Stände und Geschäfte die Läden hochgeklappt. Auch die Strände der Stadt – an einem sonnigen Novembertag mit fast 30 Grad – waren bis auf einige wenige Urlauber verwaist.

Eine, die sich doch ins Meer traute, war Suzan Levine aus Los Angeles. Sie hatte in ihrem Hotel von den Raketen gehört und war morgens zusammen mit den anderen Gästen in den Schutzbunker gehastet. Am frühen Nachmittag aber wollte sie nicht mehr im Zimmer sitzen. »Ich habe aus meinem Fenster geschaut und sah, dass Israelis auch in dieser Situation mehr oder weniger ihr Leben leben, und dachte, dem schließe ich mich an.« Sie findet es bewundernswert, wie die Menschen hier mit der unglaublichen Bedrohung umgehen. »So sieht er also aus, der Alltag im Raketenregen.«

PANIK Doch nicht für alle verliefen die Angriffe glimpflich. Ein achtjähriges Mädchen im Tel Aviver Vorort Holon brach beim Rennen in den Sicherheitsraum zusammen und wurde in kritischem Zustand in ein Krankenhaus eingeliefert. Eine Panikattacke hatte wahrscheinlich einen Herzinfarkt ausgelöst. Mittlerweile befindet sich das Mädchen auf dem Weg der Besserung, gaben die behandelnden Ärzte an. Ein 35-jähriger Mann erlitt Verletzungen, als er mit seinem Wagen auf einer Schnellstraße in der Nähe der Stadt Gan Yavneh fuhr und direkt neben ihm eine Rakete einschlug. Eine Verkehrskamera nahm die Bilder auf. Das Geschoss verpasste ihn nur knapp.

Auf dem Carmelmarkt waren fast alle Stände geschlossen.

Während der IDF zufolge mehr als 90 Prozent der Raketen vom Abwehrsystem »Iron Dome« abgefangen wurden, gab es dennoch Einschläge, die schweren Sachschaden anrichteten. In Sderot brannte eine Matratzenfirma komplett nieder. In Netiwot wurde ein Haus durch einen direkten Treffer nahezu zerstört. Die Familie hatte sich erst Sekunden zuvor in Sicherheit gebracht. »Ich sagte zu meinem Mann, mach die Tür fest zu, und zum Glück tat er es«, erzählte die sichtlich aufgerüttelte Batschewa Hadad aus der Kleinstadt an der Grenze zum Gazastreifen im israelischen Fernsehen.

»Einen Augenblick später gab es einen riesigen Knall, und ich wusste, es ist etwas geschehen.« Dass niemand verletzt wurde, erklärt sie sich mit der Hilfe Gottes. Ihre Tochter Levana indes findet es ungerecht, dass ihr Haus zerstört wurde, weil die israelische Armee den Terroristen tötete. »Der Preis war zu hoch.«

Am Mittag bestätigte die Armee, Angriffe im Gazastreifen zu fliegen. Stabschef Aviv Kochawi unterstrich, man sei an keiner Eskalation interessiert, bereite sich jedoch auf eine vor. Am Mittwochmorgen flog die IDF mehrere Angriffe auf Ziele des Islamischen Dschihad in der gesamten Enklave. Der Minister für öffentliche Sicherheit, Gilad Erdan, sagte im Armeeradio, dass sich Israels Politik wegen der jüngsten Ereignisse in Gaza geändert habe. Bisher hatte gegolten, dass die Hamas als regierende Fraktion im Streifen für alles verantwortlich sei. »Heute sehen wir das anders.«

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu führte aus, dass der getötete Anführer der Terrorgruppierung »eine tickende Zeitbombe« gewesen sei, der Versuche, mit der Hamas eine dauerhafte Ruhe zu erreichen, zunichtegemacht habe. Abu al-Ata war für viele Anschläge und Raketenangriffe in den vergangenen Monaten verantwortlich und habe geplant, weitere auszuführen. »Dieser Erzterrorist ist der Haupttäter im Gazastreifen«, so Netanjahu. Es war die erste Aktion des neuen Verteidigungsministers Naftali Bennett, der erst vor wenigen Tagen von Netanjahu benannt worden war.

Ministerpräsident Benjamin Netanjahu führte aus, dass der getötete Anführer der Terrorgruppierung »eine tickende Zeitbombe« gewesen sei.

Der Vorsitzende der Partei Israel Beiteinu, Avigdor Lieberman, wollte Netanjahus Worte so nicht stehen lassen: »Vor einem Jahr hat Netanjahu den Tod von Abu al-Ata verhindert und sich zurückgelehnt. Ich dachte schon damals, dass die Zeit reif ist. Doch der Premier hat seine Macht dagegen eingesetzt.«

SICHERHEIT Präsident Reuven Rivlin rief die Bevölkerung dazu auf, »die lebensrettenden Anweisungen des Heimatfrontkommandos der IDF zu befolgen«. Er betonte, er stehe voll und ganz hinter den Sicherheitskräften, die lange am Erfolg der Aktion gearbeitet hätten. Mit einem Seitenhieb auf jene, die Netanjahu unterstellen, die Tötungsaktion aus politischem Kalkül genehmigt zu haben, machte der Präsident klar, dass dies nicht der Zeitpunkt für politisches Gezänk sei. »Ich weiß, dass alle, die daran beteiligt waren, ausschließlich Israels Sicherheit im Sinn hatten.«

Auch Benny Gantz von der Zentrumsunion Blau-Weiß, der derzeit damit beauftragt ist, eine neue Regierung zu bilden, begrüßte die Aktion. »Die Politiker und die IDF haben die korrekte Entscheidung getroffen – für die Sicherheit der Bürger in Israel und der Menschen im Süden«, twitterte Gantz. »Blau-Weiß wird alle Aktivitäten unterstützen, die Israels Sicherheit betreffen, und den Schutz seiner Bewohner über die Politik stellen.«

Netanjahus Aufruf an die Israelis, »Widerstandsfähigkeit zu zeigen und Haltung zu bewahren«, setzten einige prompt in den sozialen Netzwerken um und ließen ihrem Galgenhumor freien Lauf. »Die Stadtverwaltung Tel Aviv hat die Bunker aufgeschlossen. Die erste Minute kostet zehn Schekel, jede weitere Sekunde fünf«, schrieb eine Frau in Anspielung auf die teuren Parkplätze in ihrer Stadt. Ein anderer schlug augenzwinkernd auf Twitter vor: »Hey Leute, es gibt keine Schule, keinen Kindergarten und keine Arbeit. Da könnten wir gleich wählen gehen. Das müssen wir sowieso bald wieder ...«

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