Darmstadt

Märchenstunde

Wenn Regina Haas-Sauer eine Geschichte erzählt, dann tut sie das nicht nur mit Worten. Der ganze Körper ist im Einsatz. Ihre Hände beschreiben Kreise, recken sich zum Himmel oder öffnen sich weit, als gelte es, das ganze Publikum zu umarmen. Dazu zeigt das Gesicht unter den üppigen roten Locken: Wut, Erschrecken, Freude und ab und an ein Schmunzeln, vor allem wenn es ihr gelingt, jemanden aus dem Publikum mit in das Erzählte einzubinden.

Denn auch wenn es scheint, als ob Haas-Sauer gänzlich in die von ihr so lebendig geschilderten Welten abtaucht, bleibt sie doch immer präsent und wachsam. Was die Erzählerin nicht darf, ist beim Publikum längst geschehen. Sie sind eingetaucht in die jahrhundertealten Erzählungen, abgedriftet in die Welt der Märchen.

Kerzenlicht und der hereinbrechende Abend: Die Atmosphäre im Rüdiger-Breuer-Saal der Jüdischen Gemeinde Darmstadt verführt zum Schweigen. Kuchen und Getränke stehen bereit. Ein Märchennachmittag wie man ihn sich vorstellt – bis auf ein Detail: Eigentlich ist das Publikum schon zu alt für Märchen. Unter den 50 Erwachsenen, die an diesem Sonntagnachmittag in die Darmstädter Gemeinde gekommen sind, sitzt auch Aviva Steinitz. Gespannt lauscht die Vorsitzende der WIZO (Women’s International Zionist Organisation), Gruppe Darmstadt, entweder Erzählungen oder dem Flötenspiel, das die Pausen zwischen den Märchen füllt.

Auf den ersten Blick wirkt sie ähnlich gedankenverloren wie die anderen Zuhörer. Ein Irrtum. Denn bei aller Besinnlichkeit verfolgt Steinitz mit dem von ihrer Gruppe organisierten Märchennachmittag für Erwachsene ein äußerst ernstes Anliegen. Es geht um Spenden für ein von der WIZO betreutes Frauen- und Mädchenzentrum im israelischen Eilat.

Perspektiven Was Aviva Steinitz aus Israel zu berichten hat, klingt alles andere als märchenhaft. Das WIZO-Zentrum in Eilat ist kein Garten voller Früchte und Edelsteine, dafür aber oft der letzte Zufluchtsort für Frauen und Mädchen, mit denen es die »weite Welt« nicht ganz so gut gemeint hat. »Drogenabhängigkeit, Missbrauch, schwierige soziale Verhältnisse«, zählt Steinitz auf. Das Zentrum in Eilat bietet ihnen einen sicheren Rückzugsraum und mehr noch eine Perspektive. »Die Frauen erhalten dort therapeutische Betreuung und berufliche Fortbildungsmöglichkeiten«, erklärt Steinitz, »wir reden nicht nur von Zuflucht, sondern auch von Zukunft.«

Zukunft wie Zuflucht aber wollen finanziert sein. Im Märchen käme an dieser Stelle der Goldregen vom Himmel. In der Realität obliegt es den Ehrenamtlichen von WIZO, die nötigen Mittel aufzutreiben. Für die in Israel geborene Steinitz eher eine Selbstverständlichkeit denn eine Belastung: »In Israel gibt es sehr viel Armut. Wir, die wir hier leben, haben einfach die Pflicht etwas zu tun.«

kleine Schritte Dabei beschreitet man in der mit rund 670 Mitgliedern starken Darmstädter Gemeinde kreative Wege. Es sind kleine Veranstaltungen, die nach und nach das Geld in die Spendenkasse spülen: Konzerte, Lesungen oder eben ein Märchennachmittag. »Oft treffe ich Künstler und denke mir, die wären was für uns«, berichtet Steinitz, »und wenn sie sich begeistern lassen, sind sie schnell bei uns.«

Knapp 10.000 Euro sind so im vergangenen Jahr zusammengekommen. Ein Großteil davon durch den WIZO-Basar, der auch in diesem Jahr wieder auf dem Programm steht. Ein Treffpunkt für Freunde jüdischer Literatur, israelischen Essens und Liebhaber seltener Judaica – und die einzige Großveranstaltung, die sich die WIZO-Gruppe Darmstadt zumutet.

»Jüdische Märchen enthalten oft eine Anleitung zum richtigen Leben«, glaubt Regina Haas-Sauer. Die Zuhörer lauschen gespannt der Geschichte vom armen Bauern, dem vom Propheten Elias sieben glückliche Jahre vorausgesagt werden. Tatsächlich kommt der Bauer kurz darauf zu unerwartetem Reichtum. Doch statt ihn zu verprassen, kauft er auf Anraten seiner Frau Land hinzu, arbeitet weiter hart wie zuvor und teilt seinen Reichtum mit den Armen. Als der Prophet nach Ende der sieben Jahre zurückkehrt, zeigt er sich zufrieden, und für den Bauern folgen viele weitere glückliche Jahre. »Eine Geschichte, die zeigt«, sagt Haas-Sauer, »dass man mit seinen angesammelten materiellen Besitztümern Sinnvolles anfangen kann.«

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