Wiesbaden

»Ich war immer neugierig«

Herr Gutmark, am Sonntag haben Sie ein Doppeljubiläum gefeiert: drei Jahrzehnte in der Gemeindearbeit und 20 Jahre im Vorstand des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden in Hessen. Wie hat sich die Gemeinde in 30 Jahren verändert?
1984 befand sie sich noch in einer Explorationsphase: Man suchte immer nach etwas. Sie wurde geprägt von den alten Einwanderern, von Menschen, die noch mit Religion vertraut waren. Die Synagoge war voller. Aber das Gemeindeleben richtete sich mehr nach innen. Man hatte damals das Gefühl, man müsse »für sich« bleiben. Das war insofern verständlich, als die Gemeinde aus vielen älteren traumatisierten Menschen bestand, die KZs und Arbeitslager überlebt hatten.

Warum haben Sie sich damals engagiert?
Ich hatte 1984 gerade mein Studium beendet und meinen Doktor gemacht. Damit war ich ein bisschen freier. Ich bin in Israel in wenig begüterten Verhältnissen aufgewachsen und habe früh gelernt, dass man einander braucht, man war aufeinander angewiesen. Und dieses Aufeinander-angewiesen-Sein hat mich sehr geprägt. Ich war in der sozialistischen Jugendbewegung. Wir waren eine Gruppe, die bis zur Militärzeit in Israel gemeinsam aufgewachsen ist. Ich wusste einfach, dass man allein wenig bewirken kann.

Wie haben Sie damals die Gemeindearbeit erlebt?
Eigentlich wollte ich zu meinem Jubiläum das Hohelied des Ehrenamtes singen. Andererseits bin ich hin- und hergerissen, ob nicht bestimmte Ämter eher aus einer Art Profilneurose heraus wahrgenommen wurden und weniger aus Selbstlosigkeit. Man sonnt sich ja damit durchaus gern in der Öffentlichkeit. Und was mich betrifft, denke ich, es ist schon eher ein egoistischer Zug von mir, dass ich eine Gemeinschaft schaffen wollte, in der ich mich selbst auch wohlfühle und in der es ein bestimmtes Selbstverständnis gibt.

Wie konnten Sie denn Ihre Pläne umsetzen, damit Sie so eine Wohlfühlgemeinde formen konnten?
Ich hatte viele Freunde schon aus alten Zeiten, die dann später Ämter bekleideten, in denen sie entscheiden konnten. Das war wirklich mehr Glück als Taktik. Ich fand immer genügend Leute, die Verständnis hatten und mir Steine aus dem Weg räumten. Wir konnten zum Beispiel unsere Sozialarbeiter aus den Reihen der Zuwanderer rekrutieren, weil ich die Stadt überzeugen konnte, dass wir sie entlasten, indem wir in der Gemeinde von der Stadt bezahlte Sozialarbeiter beschäftigten, die dann sowohl als Übersetzer als auch als Betreuer arbeiteten.

Wie haben Sie die Zuwanderung erlebt?
Die Zuwanderer waren nicht wirklich fremd für mich, auch wenn sie äußerlich fremd waren und eine andere Sprache hatten. Ich bin in Tel Aviv in einer ostjüdischen Umgebung aufgewachsen. Ich habe keine Probleme gehabt, diesen Übergang zu schaffen. Und diese Haltung habe ich auch unseren Mitgliedern und dem damaligen Vorstand zu vermitteln versucht, die Zuwanderer nicht zu missachten, weil sie äußerlich vielleicht nicht ganz so gepflegt erschienen. Man sah ihnen an, dass sie aus armen Ländern kamen. In der Synagoge habe ich mich zwischen sie gesetzt und lautstark gesungen und konnte auch andere dazu bewegen. Das ist bis heute so. Ich sitze mitten unter den russischsprachigen Mitgliedern, allein schon weil ich neugierig bin. Inzwischen habe ich mir autodidaktisch Russisch beigebracht.

Gab es denn überhaupt keine Probleme?
Natürlich gab es immer wieder Leute, die meinten, dass die Zuwanderer besser behandelt würden und mehr Aufmerksamkeit erhielten. Doch man muss den Leuten klarmachen, dass soziale Bedürfnisse entstehen, die bedient werden müssen. Manche alten Mitglieder haben es verstanden, manche nicht und blieben weg. Aber mit der Zeit hat sich das wieder geregelt.

Haben diese guten Kontakte zu den Behörden Ihnen geholfen, Tarbut und das Jüdische Lehrhaus aufzubauen?
Ich hatte schon länger – unabhängig von der Zuwanderung – das Anliegen, der Gesellschaft zu erklären, wer wir sind. Wir merkten durch die Besucher, die wir über die Jahre hinweg bei uns begrüßen konnten, dass sie zwar neugierig waren, wir aber jedes Mal bei Adam und Eva anfangen mussten, wenn wir ihnen etwas über das Judentum erzählen wollten. Dabei ist die jüdische Geschichte Wiesbadens schon 800 Jahre alt. Da ist es wirklich erstaunlich, dass die Nachbarn so wenig über uns wissen. Wir nahmen aber ihre Neugierde wahr und wollten sie auch bedienen. Außerdem wünschten wir uns, dass die Menschen mehr über das Judentum wissen als ihre Verfolgung in 13 Jahren Nazi-Zeit. So kam es auch zum Abschluss des Staatsvertrages vor sechs Jahren. Mir war wichtig, dass die Politiker sich nicht nur in öffentlichen Reden freuten, dass es hier wieder Juden gibt, sondern dass sie dieses Leben auch fördern, vor allem, weil es unser deutsch-jüdisches Kulturerbe ist.

Beim Lehrhaus arbeiten Sie ja eng mit der Volkshochschule zusammen ...
Als der Direktor der VHS vor 20 Jahren neu ins Amt kam, war ich der erste Besucher bei ihm. Seitdem sind wir miteinander befreundet. Schon damals fragte ich ihn, wie es wäre, wenn wir etwas zusammen machen. Es hat eine Weile gedauert, aber schließlich wurde daraus etwas. Ich war der Erste, der Hebräischunterricht gegeben hat. Aber ich habe den Job weitergegeben, weil ich andere Aufgaben hatte. Schließlich haben wir eine unserer Israelinnen damit betraut, und das läuft bis heute. Inzwischen haben wir vier Parallelklassen. Mit unserem Hebräischunterricht haben wir sozusagen den Grundstein zum Lehrhaus gelegt. Wir betrieben es auch erst, nachdem wir mehr Verständnis in der Bevölkerung gefunden hatten.

Die Gemeinde hat sich weiter geöffnet. Sie haben sich ja auch am Stadtfest und zum Mauerfalljubiläum beteiligt.
Da haben wir Falafel verkauft und getanzt. Und wir haben 60 Jahre Gründung unserer Gemeinde gefeiert, 40 Jahre Synagogenbau, das waren Erfolge mit viel Zulauf. Wir haben jeder Tageszeitung eine Festschrift beigelegt. Das hat uns noch ein Stückchen näher an die Bevölkerung herangeführt. Und heute sind wir schon eine Tatsache in Wiesbaden. Zu 60 Jahren Israel 2008 hatten wir vor dem Rathaus ein großes Fest veranstaltet, und daraus ist Tarbut entstanden. Die Stadt hat für uns die Zelte gekauft, ich hatte alle Organisationen, die Interesse an uns hatten, die Deutsch-Israelische-Gesellschaft, EL AL und WIZO, eingeladen, und sie haben in den Zelten ihre Sachen verkauft und dargeboten. Unsere Veranstaltungen finden öffentlich in großen Sälen statt, damit die Bevölkerung Gelegenheit hat, mit uns in Kontakt zu kommen und sich mit uns auszutauschen.

In wenigen Tagen werden Sie 76. Haben Sie manchmal das Gefühl, dass es jetzt genug ist?
Dem Kalender war ich nie verpflichtet. Ich bekomme auch immer Komplimente, aber ich bin einfach körperlich kraftvoll – wie ich hoffe, auch geistig. Ich arbeite weiter als Gutachter und Sachverständiger für Gewaltdelikte bei Gericht. Beruf und Ehrenamt machen Spaß, ich bin fit und sehe nicht, warum ich aufhören sollte. Ich bin ein alter Hase im Jewish Business.

Mit dem Vorstandsmitglied der Wiesbadener Gemeinde sprach Heide Sobotka.

Jacob Gutmark
wurde am 21. März 1938 in Tel Aviv geboren. Er studierte in Mainz Psychologie und promovierte zum Doktor der Naturwissenschaften. Gutmark unterrichtete 13 Jahre als Dozent an der Hochschule Rhein-Main in Wiesbaden und war bis 2004 Psychotherapeut, darüber hinaus erstellte er Prognosen zur Schuldfähigkeit von Straftätern. Noch heute ist er als Sachverständiger vor Gericht gefragt. Seit 20 Jahren gehört Gutmark dem Vorstand des Landesverbandes der Jüdischen Gemeinden Hessens sowie dem Direktorium des Zentralrats der Juden in Deutschland an. Gutmark ist seit 30 Jahren Vorstandsmitglied der Jüdischen Gemeinde Wiesbaden und zuständig für Religion, Schule, Kultur und Öffentlichkeit. Er ist Mitglied im Landespräventionsrat Hessen, der Hessischen Landesanstalt für privaten Rundfunk und neue Medien, im Hessischen Forum für Religion und Gesellschaft und im Hessischen Integrationsrat. Er ist verheiratet und hat zwei Söhne sowie zwei Enkel.

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