Porträt der Woche

»Ich sammle Hochzeiten«

»Ich hätte gerne die Möglichkeit, einfach in der jüdischen Gemeinschaft zu sein, ohne Formalität, ohne Nachfrage«: Polly Livshits (32) Foto: Rafael Herlich

Ich bin 1986 in der russischen Stadt Kasan geboren. Wir haben aber in Chisinau in Moldawien gelebt. Mein Vater hat dort als Meteorologe gearbeitet. Er hat Wolken beobachtet und Hagel bekämpft. Das ist ein sehr schöner Beruf.

Moldawien ist ein Land, in dem Klezmermusik einfach moldawische Musik heißt. Sie sind einander sehr ähnlich. Mein ganzes Leben dort dachte ich mir, ich bin moldawisch und jüdisch. Das Jüdische dachte ich aber nur als eine Möglichkeit, gut und lecker zu essen. Weil alle um mich herum kochten, und es schmeckte immer sehr gut, besonders am Freitag. Der Rest war mir nicht so klar.

abtreibungen Meine Großmutter mütterlicherseits war tatarische Muslimin, der Großvater war Jude. Er wollte meine muslimische Oma auf keinen Fall aufgeben. Es gab mehrere Abtreibungen, bevor sie geheiratet haben. Die jüdische Familie sagte: Entweder sie, oder die Familie verliert ihren Sohn. So ist es zu dieser Heirat gekommen. So ist meine Mutter nicht halachisch jüdisch geworden, worauf ich sehr stolz bin.

Oft haben mir Leute empfohlen, zu konvertieren. Ich würde es gerne tun, aber ich kann meine Mutter nicht verleugnen. Ich finde, wenn sie möchte, kann sie es selbst tun. Dann sind wir automatisch Juden.

Mein Vater ist ziemlich jüdisch. Als Kind sprach er Jiddisch. Seine Familie ist im Zweiten Weltkrieg aus Weißrussland in Richtung Russland geflüchtet. Im Mai fahre ich nach Weißrussland, um dort nach unseren Wurzeln zu suchen. Ich war schon in Kasachstan und Usbekistan, um die muslimischen Familienwurzeln zu erforschen. Jetzt ist die jüdische Seite an der Reihe.

»Meine Großmutter mütterlicherseits
war tatarische Muslimin.«

Eines Tages hat uns ein Mann zu einem Kindergeburtstag eingeladen. Das war noch in Moldawien. Ich glaube, ich war sechs. Der Mann trug eine Kippa. Auf der Kippa, in der Mitte, gab es einen Nagelkopf, mit Blut beschmiert. Ich fragte ihn: »Was ist das?« Er sagte: »Das ist eine Kippa, so etwas tragen Juden.« Ich sagte: »Okay, aber warum gibt es dort einen Nagel und etwas Rotes drumherum?«

Er antwortete: »Wenn Juden 40 Jahre alt werden, bekommen sie die Kippa auf dem Kopf festgenagelt.« Er meinte: Jude sein ist gar nicht so leicht, wie du denkst. Er hat natürlich Spaß gemacht. Es war kein Blut, sondern Ketchup. Aber dieses Bild, dass das Judentum etwas ist, das man mit Würde tragen muss, ist geblieben.

moldawien In Moldawien war es nicht möglich, das Judentum zu praktizieren. Zum einen, weil wir es nicht kannten. Auch kamen Sprüche wie: Wir werden die Juden in russischem Blut ertränken.

Als dann 1992 in der Region Transnistrien ein Krieg ausbrach, haben wir uns entschieden zu fliehen. Mein Vater und meine Schwester gingen nach Israel. Meine Mutter ist mit mir in Moldawien geblieben. Und nach ein paar Jahren kamen wir wieder zusammen, in Russland. Ich wusste immer noch nicht, was das Judentum ist, bis in Kasan eine jüdische Schule eröffnet wurde. Dort habe ich das Judentum kennengelernt. Russland ist für mich etwas Positives in dieser Hinsicht.

In Kasan durfte ich nicht Kunst studieren. Im Vorbereitungskurs gab es eine Auseinandersetzung mit meinem Professor. Ich war mit einem Abschluss von der jüdischen Schule an die Kunsthochschule gekommen. Der Professor sagte mir: »Du kommst nur rein, wenn du soundsoviel Geld zahlst. Ihr seid ja Juden, ihr habt Geld.« Aber wir hatten nicht viel Geld.

Irgendwann haben wir dann eingesehen, dass es in Russland keine Zukunft für uns gibt. Und da meine Mutter Deutschlehrerin ist, dachten wir uns: Warum nicht nach Deutschland?

Ich würde gerne konvertieren, aber ich kann meine Mutter nicht verleugnen.

Das war keine schlechte Entscheidung. Wir sind sehr dankbar, dass wir hier sind. Wir sind 2004 mit einem kleinen Bus ausgewandert, mit all unseren Büchern in Kartons. Der Fahrer war Deutscher, und er kannte sich aus. Er holte uns in Moskau ab, wir fuhren über Finnland und Dänemark. Wir wollten das Meer sehen. Als wir in Osthofen in Rheinland-Pfalz angekommen sind, konnte sich der Fahrer nicht zurechtfinden. Er irrte in der Stadt umher. Plötzlich sah meine Schwester einen russischsprachigen judenfeindlichen Schriftzug. Da wussten wir: Bestimmt müssen wir dort hin, es muss dieses Gebäude sein. Und so war es auch.

schock Als ich nach Deutschland kam, war es ein Schock für mich, zu erfahren, dass ich nicht jüdisch bin. Ich war in Russland in den jüdischen Organisationen Sochnut und Hillel aktiv, ich war ständig in Israel. Es gab in Kasan ein großes Haus mit Synagoge und jüdischem Klub, wo wir alle oft hingingen.

Als wir nach Deutschland kamen, war ich 18 Jahre alt. Das Abitur musste ich nachholen. Ich bin in Neuerburg in der Nähe von Trier zur Schule gegangen. Es war ein Internat. Das hat mich geprägt. Es waren sehr spannende Jahre, und es war genauso, wie man sich ein Internat vorstellt. Aber es war sehr weit vom Judentum entfernt.

In Neuerburg habe ich das Judentum ein bisschen verlernt, könnte man sagen. Angefangen habe ich damit erst wieder, als ich nach Frankfurt kam. Dort lebte meine Schwester. Ich habe dann 2009 in Offenbach ein Studium an der Hochschule für Gestaltung (HfG) begonnen.

»In New York haben wir traumhafte
Schabbatgottesdienste besucht.«

Ich suchte nach einer Möglichkeit, in jüdische Strukturen hineinzukommen, aber es hat nicht funktioniert. Dann wurde ich beim Ernst Ludwig Ehrlich Studienwerk (ELES) als Stipendiatin aufgenommen. Dort habe ich alles mitgemacht. Das war mein Judentum für vier Jahre. Vergangenes Jahr war ich mit ELES in New York. Wir haben traumhafte Schabbatgottesdienste besucht, mit einem transsexuellen Rabbiner zum Beispiel. Etwas Interessanteres hatte ich noch nie erlebt. Ich war sehr dankbar dafür. Ich habe verstanden, dass man auch als Jude tolerant sein kann.

DIPLOM Zurzeit bin ich in meiner Diplomphase. Mein aus Marokko stammender Mann und ich hatten leider keine Hochzeitsfeier. Seine Mutter ist an diesem Tag gestorben. Mir fehlt diese Feier. Ich habe keine Fotos von diesem Tag. Ich dachte mir: Ich bin Künstlerin, also zeichne ich mir meine Hochzeit. Ich sammle in der ganzen Welt Hochzeitsgeschichten. Ich befrage Menschen zu ihren Hochzeiten und zeichne sie.

Bisher habe ich etwa 60 Interviews geführt. Ich bin den Menschen sehr dankbar, dass sie sich öffnen. Ich bin dann auch nach Marokko gereist, unter anderem, um noch mehr Geschichten zu sammeln. Die Menschen dort sind sehr offen. Ihre Hochzeitsfeiern gehen über drei oder vier Tage. In jedem Dorf wird ein anderes Ritual gefeiert.

Ich habe natürlich auch jüdische Hochzeitsgeschichten gesammelt. Unter anderem habe ich mit einem Berliner Rabbiner gesprochen. Es war sehr interessant.

Ich habe immer noch sehr viel Kontakt zu  anderen ELES-Stipendiaten.

Was ich entwickeln will, ist ein etwa zehn mal drei Meter großes Bild. Es geht mir darum, dieses Ritual der Liebe zu zeigen. Und auch darum, mich zu heilen von dieser Frage, die von vielen Russen kommt: Hast du ein Bild von deiner Hochzeit? Nach meinem Diplom werde ich es haben.

ELES Ich habe immer noch sehr viel Kontakt zu den anderen Studenten, die auch ELES-Stipendiaten waren. Wir treffen uns als Alumni. Ich hätte gerne die Möglichkeit, einfach in der jüdischen Gemeinschaft zu sein, sobald ich es will. Ohne diese Formalität, ohne Nachfrage. Mir fehlen die Lieder, die Gespräche und die Gesichter, die ich zeichnen kann.

Ich habe es versucht, aber es hat nicht geklappt. Ich weiß nicht, ob es sich hier in Frankfurt jemals ändern wird. In Berlin ist es einfacher.

Durch den Brexit, bin ich mir sicher, kommt eine neue Welle nach Frankfurt, und darunter auch Juden. Sie werden vielleicht mit uns allen zusammen eine neue Gemeinschaft bilden. Ich hoffe, dass ich sie finde und dass wir etwas Schönes machen können, wo wir zusammenkommen. Das fehlt mir.

Ich bin gerade sehr intensiv auf der Suche nach Gott. Denn mein Vater ist erkrankt. Ich merke, dass Gott mir fehlt. Ich möchte ihn in mein Leben hineinlassen. Ich weiß nicht, wie er aussieht. Ist Gott überhaupt ein Er? Oder eine Sie oder etwas dazwischen? Ist er schwul, lesbisch oder vielleicht trans? Ich würde Gott gern kennenlernen. Ich weiß noch nicht, wie ich das mache. Aber ich wünsche es mir sehr.

Berlin

Zeichen der Solidarität

Jüdische Gemeinde zu Berlin ist Gastgeber für eine Gruppe israelischer Kinder

 15.04.2024

Berlin

Koscher Foodfestival bei Chabad

»Gerade jetzt ist es wichtig, das kulturelle Miteinander zu stärken«, betont Rabbiner Yehuda Teichtal

 07.04.2024

Hannover

Tränen des Glücks

Auf der Damentoilette gibt es eine Schminkorgie, während Backstage auch mal die Gefühle durchgehen. Aber »je näher der Abend, desto geringer die Aufregung«

von Sophie Albers Ben Chamo  31.03.2024

Hannover

»Alle sollen uns hören und sehen!«

Tag zwei der Jewrovision beweist, dass immer noch mehr Energie möglich ist. Nach Workshops und Super-Hawdala geht es zur Kirmes und auf die Zielgerade zur Generalprobe am Sonntagvormittag

von Sophie Albers Ben Chamo  30.03.2024

Jewrovision

Perfekter Auftritt

Der Countdown zur 21. Jewrovision läuft. Rund 1300 Teilnehmer und Gäste aus den deutschen Gemeinden purzeln in Hannover aus den Bussen und bereiten sich auf das große Finale am Sonntag vor: Time to Shine!

von Sophie Albers Ben Chamo  29.03.2024

Hannover

Tipps von Jewrovision-Juror Mike Singer

Der 24-jährige Rapper und Sänger wurde selbst in einer Castingshow für Kinder bekannt

 26.03.2024

Berlin

Purim für Geflüchtete

Rabbiner Teichtal: »Jetzt ist es wichtiger denn je, den Geflüchteten die Freude am Feiertag zu bringen«

 21.03.2024

Centrum Judaicum Berlin

Neue Reihe zu Darstellungen von Juden in DDR-Filmen

Im April, Mai, August, September und Oktober werden die entsprechenden Filme gezeigt

 20.03.2024

Stiftungsgründung

Zentralrat der Juden ordnet Rabbinerausbildung neu

Das Abraham Geiger Kolleg und das Zacharias Frankel College sollen durch eine neue Trägerstruktur abgelöst werden - mit Unterstützung der staatlichen Zuwendungsgeber

 26.02.2024